Kate Crawford entwickelt in ihrem Buch Atlas der KI. Die materielle Wahrheit hinter den Datenimperien eine umfassende kritische Perspektive auf künstliche Intelligenz, die sich deutlich von der vorherrschenden technikzentrierten Sichtweise unterscheidet. Crawford argumentiert, dass KI nicht nur aus Code und Algorithmen besteht, sondern fundamental auf natürlichen Ressourcen, Infrastruktur und menschlicher Arbeit basiert. KI wird als ein komplexes System dargestellt, das tief in ökonomische, politische, kulturelle und historische Strukturen eingebettet ist.
Anders als Marshall McLuhans klassische Perspektive, die Medien als Erweiterungen menschlicher Sinne begreift, werden sie hier als „Erweiterungen der Erde“ konzeptualisiert. Dies ermöglicht einen grundlegend anderen Blick auf die materiellen Grundlagen der künstlichen Intelligenz.
Jedes Element eines KI-Systems – von Netzwerkroutern über Batterien bis zu Rechenzentren – basiert auf Materialien, die sich über Milliarden von Jahren im Erdinneren gebildet haben. Die Cloud, oft als immateriell dargestellt, erweist sich als hochgradig ressourcenintensive, extraktive Technologie, die enorme Mengen an Wasser und Strom in Rechenleistung umwandelt. Dieser Prozess verursacht beträchtliche Umweltschäden, die systematisch aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt werden. Die energieintensive Infrastruktur der KI wird damit zu einem zentralen ökologischen Problem unserer Zeit.
Diese geologische Perspektive verbindet sich mit einer Analyse globaler Arbeitsteilung und Machtstrukturen. KI-Systeme entstehen buchstäblich in den Salzseen Boliviens und den Minen des Kongos, werden durch die Arbeit von Crowdworkern mit kategorisierten Datensätzen gefüttert und durch ein Heer von oft unsichtbaren Arbeitskräften am Laufen gehalten. Der Arbeitskräftebedarf erstreckt sich von Bergarbeitern beim Zinkabbau in Indonesien über indische Crowdworker auf Amazon Mechanical Turk bis zu den Beschäftigten in den iPhone-Fabriken von Foxconn in China. Selbst innerhalb der Technologieunternehmen gibt es eine große Zahl von „Schattenarbeitern“, deren Anzahl die der regulär Beschäftigten oft übersteigt.
Die Entwicklung von KI erfordert enormes Kapital und ist damit in bestehende Machtverhältnisse eingebunden. Die Systeme spiegeln nicht nur soziale Beziehungen und Weltverständnisse wider, sondern bringen diese auch aktiv hervor. Rechenleistung und verkörperte Arbeit sind untrennbar miteinander verbunden. KI-Systeme benötigen ausgiebiges und rechenintensives Training mit umfangreichen Datensätzen oder vorgegebenen Regeln, um überhaupt funktionieren zu können. Sie sind damit weder autonom noch rational, sondern fundamental abhängig von übergeordneten politischen und sozialen Strukturen.
Crawford plädiert für einen „topografischen Ansatz“, der diese verschiedenen Ebenen – von der Geologie über die Arbeit bis zu den Machtverhältnissen – zusammendenkt. Statt sich auf abstrakte Versprechungen der künstlichen Intelligenz oder die neuesten Machine-Learning-Modelle zu konzentrieren, sollten die verschiedenen „Landschaften der Datenverarbeitung“ in ihren Verbindungen verstanden werden. Dies ermöglicht auch einen kritischen Blick auf die ethischen Implikationen: Statt sich auf abstrakte Prinzipien zu beschränken, sollten die konkreten Arbeitsbedingungen von Minenarbeitern, externen Dienstleistern und Crowdworkern in den Mittelpunkt der Diskussion rücken.
Diese Perspektive stellt die grundsätzliche Frage nach dem „Warum“ der künstlichen Intelligenz. Statt KI einfach einzusetzen, weil es technisch möglich ist, sollte ihre Anwendung kritisch hinterfragt werden. Dies ermöglicht es, die vorherrschende Logik der statistischen Vorhersage und Profitakkumulation zu problematisieren und alternative Entwicklungspfade zu diskutieren. Die wirklich relevanten Aspekte der künstlichen Intelligenz sind damit nicht technokratische Abstraktheits- und Automatisierungsphantasien, sondern die global vernetzten Extraktions- und Machtsysteme, in die sie eingebettet ist und denen sie dient.