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Über Exformation, stummes Wissen und die Ökonomie des Bewusstseins – mit einem Blick auf die generative KI
Der dänische Wissenschaftsjournalist Tor Nørretranders hat mit „Spüre die Welt” einen der originellsten Beiträge zur Bewusstseinstheorie vorgelegt. Seine zentrale Einsicht: Nicht die Information zählt, sondern das, was wir aussortieren mussten, um sie hervorzubringen. Ein Gedanke mit weitreichenden Konsequenzen – für unser Verständnis von Kommunikation, Wissen und der Illusion des bewussten Selbst. Und einer, der im Zeitalter generativer KI eine ungeahnte Brisanz entfaltet.
Es gehört zu den hartnäckigsten Missverständnissen unserer Zeit, Information für etwas Wertvolles zu halten. Wir sprechen von der Informationsgesellschaft, von Wissensarbeitern, vom Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Dabei übersehen wir etwas Entscheidendes: Information an sich ist langweilig. Interessant ist, wie man sie wieder loswird.
Tor Nørretranders, der dänische Wissenschaftspublizist, hat diese kontraintuitive Einsicht zum Ausgangspunkt eines bemerkenswerten Gedankengebäudes gemacht. In „Spüre die Welt” (im Original: „Mærk Verden”) verbindet er Thermodynamik, Informationstheorie und Kognitionswissenschaft zu einer Theorie des Bewusstseins, die unsere Vorstellung vom denkenden Subjekt gründlich erschüttert.
Der Ausgangspunkt liegt in der Physik, genauer: im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Energie, so lernen wir, kann nicht verbraucht werden – sie wird nur umgewandelt. Und doch scheint etwas verloren zu gehen. Rudolf Clausius gab diesem Etwas 1859 einen Namen: Entropie. Sie ist das Maß für die Unzugänglichkeit von Energie, für den Grad, in dem Ordnung sich auflöst und das Universum seiner finalen Lauheit entgegentreibt. Was Nørretranders interessiert, ist die Verbindung dieses physikalischen Sachverhalts mit dem scheinbar ganz anderen Reich der Information.
Claude Shannon, der Begründer der mathematischen Informationstheorie, vollzog einen seltsamen Kunstgriff: Er warf alles über Bord, was mit Bedeutung zu tun hat, und definierte Information rein formal als Maß für Überraschung, für das, was hätte gesagt werden können. Information liegt demnach in der Unordnung, nicht in der Ordnung. Je mehr mögliche Zustände ein System annehmen kann, desto mehr Information enthält es – oder genauer: desto mehr Information wird aussortiert, wenn wir uns auf einen bestimmten Zustand festlegen.
Hier nun setzt Nørretranders’ eigener Beitrag an. Er prägt den Begriff der Exformation für all das, was ausgesondert wird, bevor eine Mitteilung erfolgt. Exformation ist die geistige Arbeit, die wir leisten, um etwas aussprechbar zu machen – das, was wir nicht ausdrücken, aber im Kopf haben, wenn wir sprechen. Sie steht zur Information im rechten Winkel: Je mehr Information übertragen wird, desto mehr Exformation wurde produziert.
Das Paradoxe daran: Was wir im Alltag „Information” nennen, ist eigentlich Exformation. Wenn wir sagen, ein Gespräch sei informativ gewesen, meinen wir nicht die Bits und Bytes des tatsächlich Gesagten, sondern den Denkprozess dahinter, den wir im Verstehen rekonstruieren. Information ist sichtbar; Exformation wird erst im Zusammenhang sichtbar. Information ist das Gesagte; Exformation das Gemeinte. Besteht zwischen beiden ein dauerhafter Gegensatz, macht es uns verrückt.
Die Konsequenzen dieser Unterscheidung reichen weit. Charles Bennett, Physiker bei IBM, hat mit dem Begriff der logischen Tiefe ein verwandtes Konzept entwickelt. Die Tiefe einer Aussage bemisst sich nicht nach ihrem Informationsgehalt, sondern nach der Arbeit, die ihr vorausging – nach der Rechenzeit, die ein Computer bräuchte, um sie zu erzeugen. Ein geniales Naturgesetz, knapp formuliert, hat enorme logische Tiefe, weil es das Resultat einer langen intellektuellen Berechnung ist. Viel Information wurde auf dem Weg dorthin gelöscht. Was übrig bleibt, erscheint einfach – aber diese Einfachheit ist teuer erkauft.
Damit verbindet sich eine alte Einsicht, die Michael Polanyi als tacit knowledge, als stummes Wissen, beschrieben hat. Eine Fähigkeit – etwa die eines Handwerkers – beinhaltet weit mehr, als durch Worte vermittelbar ist. Man lernt durch Wiederholung von Handlungen, nicht durch die Lektüre von Anleitungen. Ein Lehrbuch enthält all das stumme Wissen nicht, von dem die Formeln nichts sagen; es enthält nur das, was die Symbole bedeuten. Die Symbole entfalten ihre Kraft erst, wenn sie sich mit dem Geist eines lebendigen Menschen vereinigen, der einen Teil der Exformation wiedererschaffen kann, die präsent war, als das Symbol formuliert wurde.
Was bedeutet das für unser Selbstverständnis? Nørretranders zieht eine ernüchternde Bilanz: Den größten Teil dessen, was durch uns hindurchgeht, erfassen wir nicht. Unser bewusstes Ich ist nur ein kleiner Teil des Gesamtgeschehens. Das Bewusstsein ist nicht der Steuermann des Schiffes, sondern eher der Pressesprecher – es erklärt nachträglich, was ohnehin geschehen ist, und hält sich dabei für den Entscheider.
Das ist keine bloß theoretische Spekulation. Die Neurowissenschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Belege dafür geliefert, dass bewusste Entscheidungen ihren unbewussten Vorläufern um Sekundenbruchteile hinterherhinken. Benjamin Libet, dessen Experimente Nørretranders ausführlich diskutiert, hat gezeigt, dass das Bereitschaftspotential im Gehirn bereits messbar ist, bevor der Proband den bewussten Willen verspürt, eine Handlung auszuführen.
Die Pointe liegt nicht im Determinismus, nicht in der Leugnung des freien Willens. Sie liegt in der Einsicht, dass Bewusstsein wesentlich ein Selektionsprozess ist – ein Filter, der aus der ungeheuren Fülle dessen, was in uns vorgeht, einige wenige Elemente herausgreift und zu einer Geschichte formt.
Diese Geschichte nennen wir Ich.
Für die Kommunikation zwischen Menschen folgt daraus: Verstehen ist immer Rekonstruktion von Exformation. Wir verstehen einander nicht, weil wir dieselben Informationen austauschen, sondern weil wir fähig sind, den Aussonderungsprozess des anderen nachzuvollziehen. Wo diese Fähigkeit fehlt – etwa wenn kulturelle Kontexte zu weit auseinander liegen –, bleibt selbst die präziseste Information bedeutungslos.
Die Maschine ohne Körper: Generative KI im Licht der Exformation
Nørretranders’ Buch erschien 1991, lange bevor ChatGPT, Claude oder Midjourney die öffentliche Debatte bestimmten. Und doch – oder gerade deshalb – bieten seine Kategorien einen ungewöhnlich scharfen Blick auf das, was generative KI leistet und was sie verfehlt.
Large Language Models sind, streng genommen, Maschinen zur Produktion von Information ohne Exformation. Sie generieren Text, der formal korrekt ist, stilistisch angemessen, oft sogar überraschend. Aber hinter diesem Text steht kein Aussonderungsprozess im Sinne Nørretranders – kein Ringen um Ausdruck, keine verworfenen Gedanken, kein stummes Wissen, das sich im Formulieren verdichtet. Die Modelle haben während des Trainings zwar Milliarden von Texten verarbeitet und dabei statistische Muster extrahiert. Doch diese Kompression ist kategorial verschieden von der Exformation eines denkenden Wesens.
Der Unterschied zeigt sich am deutlichsten dort, wo er am wenigs…
