Die Geschichte lehrt: Nicht die Technologie selbst schafft Wandel, sondern die menschlichen Ökosysteme, in die sie eingebettet wird. Ein Essay über vergessene Philosophen, unterschätzte Netzwerke und die Ko-Evolution von Algorithmus und Atom.
Es ist ein Muster, das sich durch die Technikgeschichte zieht wie ein roter Faden: Revolutionäre Erfindungen brauchen Jahrzehnte, um ihr Versprechen einzulösen. Die Elektrizität wurde in den 1880er Jahren kommerziell verfügbar – doch erst vierzig Jahre später, in den 1920ern, zeigten sich die versprochenen Produktivitätsgewinne. Das Automobil, der Computer, das Internet: Immer wieder dieselbe Lektion. Die Technologie allein ist nicht der Wendepunkt. Sie ist nur der Anfang.
Das Produktivitätsparadox und seine Auflösung
Was also macht den Unterschied zwischen einer faszinierenden Erfindung und echter gesellschaftlicher Transformation? Die Antwort liegt nicht in den Laboren der Ingenieure, sondern in den Netzwerken, Organisationen und Ökosystemen, die sich um neue Technologien herum bilden. Elektrizität entfaltete ihr Potenzial erst, als Fabriken ihre Grundrisse neu konzipierten, als Architekten anders bauten, als Menschen neue Arbeitsweisen lernten. Die Technologie musste in ein menschzentriertes Ökosystem eingebettet werden.
Radio Row im New York der 1930er Jahre zeigt dieses Prinzip exemplarisch. Ein chaotischer Cluster von Elektronikbastlern, Tüftlern und kleinen Händlern, in dem Ideen zirkulierten, Zufallsbegegnungen zu Innovationen führten und aus Einzelteilen ganze Industrien entstanden. Hier wurde nicht isoliert geforscht, sondern in dichter Interaktion experimentiert, geteilt, kombiniert. Die Innovation entstand nicht trotz, sondern wegen der menschlichen Nähe, der informellen Gespräche, der Serendipität – jener glücklichen Zufälle, die nur in solchen Räumen möglich sind.
Heute nennen wir solche Orte Silicon Valley, Cambridge oder Shenzhen. Das Prinzip bleibt dasselbe: Nicht die isolierte Genialität Einzelner treibt den Wandel voran, sondern die Dichte menschlicher Interaktion, der Austausch von Wissen, die Kollaboration über Disziplinen und Organisationen hinweg.
Die neue Welle: KI trifft auf die Welt der Atome
Mit der generativen KI steht uns nun eine Transformation bevor, deren Dimensionen alles Bisherige übersteigen könnten. Prognosen sprechen von bis zu 30 Billionen Dollar zusätzlicher Wertschöpfung bis 2030. KI kann bereits heute bis zu 70 Prozent der Arbeitsaufgaben automatisieren oder unterstützen.
Doch auch hier gilt: Die wirkliche Revolution entsteht nicht durch die Algorithmen selbst, sondern durch ihre Einbettung in menschenzentrierte Innovationsökosysteme. Und vor allem: durch ihre Verbindung mit der “Welt der Atome”. KI beschleunigt nicht nur digitale Prozesse, sondern revolutioniert, wie wir Materialien entwickeln, Medikamente entdecken, Energiesysteme optimieren.
In den Materialwissenschaften etwa verkürzt KI die Entwicklungszeit neuer Werkstoffe von Jahren auf Monate – Batterietechnologien, die effizienter speichern, Baustoffe, die CO2 binden, Solarzellen mit höheren Wirkungsgraden. Ein Chemiker nutzt KI-gestützte Simulationen, um in Wochen ein neues Antibiotikum zu entwickeln, das gegen resistente Keime wirkt. Ingenieure konstruieren mit KI-Unterstützung Leichtbauteile für Elektrofahrzeuge, die Ressourcen schonen. Das sind keine abstrakten Produktivitätsgewinne, sondern konkrete Lösungen für drängende Probleme.
Doch entscheidend ist: Diese Durchbrüche entstehen nicht in isolierten Laboren, sondern in vernetzten Ökosystemen, wo Materialwissenschaftler mit KI-Experten zusammenarbeiten, wo Startups mit Forschungseinrichtungen kooperieren, wo staatliche Institutionen Infrastruktur bereitstellen und Communities Wissen teilen.
Ko-Evolution: Simondons vergessene Einsicht
Der französische Philosoph Gilbert Simondon erkannte bereits in den 1950er Jahren, dass technische Objekte nicht unabhängig vom Menschen existieren. Sie entwickeln sich ko-evolutiv mit uns. KI-Systeme, Multiagentensysteme, algorithmische Plattformen – sie alle durchlaufen einen Prozess der „Konkretisierung”. Sie integrieren immer mehr Funktionen, werden komplexer, vernetzter. Doch ihre wahre Bedeutung, ihr eigentlicher Wert entsteht erst durch menschliche Vermittlung.
Was bedeutet das konkret? Wenn eine KI Molekülstrukturen vorschlägt, braucht es einen Menschen, der versteht, welche davon in der realen Welt synthetisierbar sind. Wenn ein Algorithmus Optimierungsvorschläge für Produktionsprozesse macht, braucht es Ingenieure, die die Randbedingungen der Fabrik kennen. Wenn Multiagentensysteme Szenarien durchspielen, braucht es Experten, die die Ergebnisse interpretieren und in Entscheidungen übersetzen.
Simondon nannte es den „Unbestimmtheitsspielraum” – jene Bereiche, in denen Maschinen unvollständig, mehrdeutig oder offen bleiben. Genau dort entfaltet sich die produktive Zusammenarbeit zwischen Mensch und KI. Die Technologie ist kein Selbstzweck, sondern Ermöglicherin für Innovationen in der physischen Welt. Der Mensch wird zum Vermittler zwischen verschiedenen technischen Systemen, zum Interpreten ihrer Outputs, zum Schöpfer neuer Verbindungen.
Ökosysteme als Innovationsbeschleuniger
Die aktuellen Innovationsökosysteme – etwa rund um Quantencomputing, Synthetic Biology oder KI – zeigen, wie entscheidend diese menschenzentrierte Einbettung ist. Es kommt nicht darauf an, dass ein einzelnes Unternehmen eine Durchbruchtechnologie entwickelt. Es kommt darauf an, dass Firmen und Startups mit staatlichen Institutionen, Forschungseinrichtungen, Communities und vielfältigen Akteuren zusammenwirken.
In Boston beispielsweise entsteht um die Biotech- und KI-Szene ein Ökosystem, in dem pharmazeutische Konzerne, MIT-Forscher, spezialisierte Startups und Risikokapitalgeber eng vernetzt sind. Die Innovation entsteht in den Zwischenräumen – bei Konferenzen, in gemeinsamen Laboren, in informellen Meetups. Ein Durchbruch in der Proteinfaltung durch DeepMind wird innerhalb von Wochen von Dutzenden Biotech-Teams aufgegriffen und für konkrete medizinische Anwendungen weiterentwickelt.
Ähnliches gilt für die Materialwissenschaften: Die Entwicklung neuer Batterietechnologien profitiert von Clustern, in denen Universitäten, Automobilhersteller, Chemiekonzerne und spezialisierte Zulieferer räumlich nah beieinander forschen. Die KI liefert Vorschläge für neue Materialkombinationen, doch erst die intensive Zusammenarbeit zwischen Disziplinen – Chemie, Physik, Ingenieurwesen, Datenanalyse – macht aus diesen Vorschlägen funktionierende Prototypen.
Jenseits des Technikdeterminismus
Diese Perspektive ist ein klarer Kontrapunkt zu vorherrschenden Digitalisierungsmythen. Technologie bestimmt nicht unsere Zukunft. Wir tun es – gemeinsam mit der Technologie, in einem fortlaufenden Prozess wechselseitiger Anpassung und Transformation.
Das hat konkrete Implikationen für Industriestrategie und Wirtschaftspolitik:
Investitionen in Infrastruktur, Wissensaustausch und die Förderung von Clustern sind wichtiger als isolierte „Moonshot”-Innovationen oder Einzelpatente. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen unterschiedliche Akteure zusammenkommen können – formelle Forschungskooperationen ebenso wie informelle Treffpunkte, die Serendipität ermöglichen.
Für Unternehmen, die KI und Multiagentensysteme einführen wollen, bedeutet es: Der Aufbau regionaler Kollaborationsnetzwerke, die Öffnung für externe Partnerschaften und die Schaffung interner Experimentierräume sind entscheidender als die bloße Tool- oder Plattform-Einführung. Multiagentensysteme entfalten ihr Potenzial nicht als isolierte Software, sondern eingebettet in Organisationen, die lernen, mit ihnen ko-evolutiv zu arbeiten.
Die menschenzentrierte Zukunft der Technologie
Am Ende steht eine Erkenntnis, die paradox erscheint, aber historisch gut belegt ist: Je mächtiger unsere Technologien werden, desto wichtiger werden die menschlichen Netzwerke, die sie umgeben. Die wahre Innovation entsteht nicht im Code, sondern in den Ökosystemen, die aus dem Code etwas Nützliches machen.
Die Zukunft der Technologie ist menschenzentriert – nicht im sentimentalen Sinne, sondern im strukturellen. Sie braucht dichte Interaktion, Kollaboration über Grenzen hinweg, Räume für Serendipität. Sie braucht Menschen, die zwischen technischen Systemen vermitteln, die Outputs interpretieren, die neue Verbindungen schaffen. Sie braucht Ökosysteme, in denen Algorithmen auf Atome treffen, in denen digitale Simulationen zu physischen Prototypen werden, in denen abstrakte Optimierungen konkrete Probleme lösen.
Die Frage ist nicht, ob KI transformiert. Die Frage ist, wie wir die Ökosysteme gestalten, in denen diese Transformation stattfindet. Radio Row entstand nicht durch zentrale Planung, aber es brauchte Infrastruktur, Zugänglichkeit, eine kritische Masse an Menschen mit komplementären Fähigkeiten. Silicon Valley profitiert von Jahrzehnten an Investitionen in Universitäten, Risikokapital und einer Kultur der Offenheit.
Die KI-Ökonomie wird ihre Versprechen nur einlösen, wenn wir verstehen, dass Technologie nie isoliert wirkt. Sie wirkt durch Menschen, in Netzwerken, in Ökosystemen. Simondons Ko-Evolution ist keine philosophische Abstraktion, sondern eine empirische Beobachtung: Technische und soziale Innovation sind untrennbar. Die Zukunft der Technologie bleibt menschlich – nicht trotz der Algorithmen, sondern durch die Art, wie Menschen sie in die Welt bringen.
Quellen:
Why The Future Of Technology Is Always More Human
„Wo gute Ideen herkommen. Eine kurze Geschichte der Innovation“ von Steven Johnson