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Echte Bedeu­tung entste­ht nicht aus der bloßen Ver­ar­beitung von Text, son­dern aus der Ein­bet­tung von Sprache in eine Lebenswelt voller sozialer Nor­men, Hand­lun­gen und Kon­textbezüge. Diese fun­da­men­tale Erken­nt­nis, die der Philosoph Lud­wig Wittgen­stein bere­its in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts for­mulierte, wird heute durch eine der vielver­sprechend­sten Entwick­lun­gen der KI-Forschung prak­tisch umge­set­zt: die Mul­ti­a­gen­ten­sim­u­la­tion.

Die Rev­o­lu­tion der sozialen KI-Sys­teme

Mul­ti­a­gen­ten­sim­u­la­tio­nen stellen einen Par­a­dig­men­wech­sel in der Entwick­lung kün­stlich­er Intel­li­genz dar. Statt isolierte KI-Sys­teme zu schaf­fen, die primär Text­dat­en ver­ar­beit­en, entste­hen hier kom­plexe soziale Ökosys­teme, in denen mehrere autonome Agen­ten miteinan­der inter­agieren, kom­mu­nizieren und gemein­sam han­deln. In diesen simulierten Wel­ten ent­fal­tet sich etwas Außergewöhn­lich­es: KI-Agen­ten begin­nen, Bedeu­tung nicht durch sta­tis­tis­che Tex­t­analyse zu “ver­ste­hen”, son­dern durch prak­tis­che Erfahrung in sozialen Kon­tex­ten zu entwick­eln.

Diese Sys­teme demon­stri­eren ein­drucksvoll, wie Kom­mu­nika­tion und Hand­lung untrennbar miteinan­der ver­bun­den sind. Die Agen­ten tauschen nicht nur Infor­ma­tio­nen aus, son­dern han­deln gemein­sam in simulierten Umge­bun­gen. Durch diese Hand­lun­gen, gegen­seit­i­gen Anpas­sun­gen und sozialen Aushand­lung­sprozesse entste­ht Bedeu­tung prak­tisch – sie wird gelebt, nicht nur berech­net.

Wittgen­steins Sprach­spiele in der dig­i­tal­en Welt

Was in Mul­ti­a­gen­ten­sim­u­la­tio­nen geschieht, entspricht bemerkenswert präzise dem, was Lud­wig Wittgen­stein in seinen späten Werken als “Sprach­spiele” beschrieb. Wittgen­stein rev­o­lu­tion­ierte die Sprach­philoso­phie mit der Erken­nt­nis, dass Sprache keine abstrak­te Repräsen­ta­tion von Wirk­lichkeit ist, son­dern inte­graler Bestandteil men­schlich­er Aktiv­itäten. In seinen Philosophis­chen Unter­suchun­gen ver­warf er die tra­di­tionelle Vorstel­lung fes­ter, inner­er Repräsen­ta­tio­nen von Wörtern und entwick­elte stattdessen die Idee, dass Bedeu­tung im prak­tis­chen Gebrauch inner­halb ein­er Sprachge­mein­schaft liegt.

Ein Wort erhält seine Bedeu­tung nur inner­halb eines kom­plex­en Net­zw­erks von Aktio­nen, Erwartun­gen und sozialen Inter­ak­tio­nen. Sprache ist einge­bet­tet in Hand­lun­gen, Regeln, Kon­texte und Lebens­for­men – genau das, was fort­geschrit­tene Mul­ti­a­gen­ten­sys­teme heute tech­nisch umset­zen.

Das Prob­lem herkömm­lich­er KI-Ansätze

Diese philosophis­che Per­spek­tive enthüllt eine fun­da­men­tale Schwäche mod­ern­er KI-Mod­elle wie GPT‑4 und ähn­lich­er Sys­teme. Obwohl sie beein­druck­ende Fähigkeit­en in der Textver­ar­beitung zeigen, arbeit­en sie primär auf der Basis von Sym­bol­ma­nip­u­la­tion und sta­tis­tis­chen Mustern in enor­men Daten­men­gen. Ihr “Ver­ste­hen” bleibt rein syn­tak­tisch – ihnen fehlt das Erfassen von Bedeu­tung im Sinne von Hand­lungskon­tex­ten, Inten­tio­nen, sozialen Regeln und prak­tis­chen Auswirkun­gen.

Solange KI-Sys­teme lediglich Zeichen­ket­ten ver­ar­beit­en, ohne selb­st in eine konkrete Lebenswelt einge­bet­tet zu sein, erre­ichen sie nicht die seman­tisch-prag­ma­tis­che Dimen­sion echter Bedeu­tung, die durch soziale Inter­ak­tion und gemein­same Prax­is entste­ht.

Weg­weisende Pro­jek­te: Von der The­o­rie zur Prax­is

Pro­jek­te wie Deep­Minds Gato oder Metas CICERO markieren bere­its wichtige Schritte in diese Rich­tung. Gato inte­gri­ert ver­schieden­ste Auf­gaben – von Robot­er­s­teuerung über Bild­ver­ar­beitung bis hin zu Spiel­strate­gien – unter einem ein­heitlichen Mod­ell. CICERO demon­stri­ert den Ansatz durch kom­plexe Strate­giespiele wie Diplo­ma­cy, wo Kom­mu­nika­tion und Inter­ak­tion mit anderen Spiel­ern untrennbar ver­woben sind.

Diese Ansätze fol­gen wittgen­steini­an­is­chen Prinzip­i­en, da sie Sprache als Teil prak­tis­ch­er Sprach­spiele ver­ste­hen und trainieren. Bedeu­tung wird durch Hand­lun­gen und soziale Inter­ak­tion entwick­elt, nicht durch isolierte Daten­ver­ar­beitung.

Die Zukun­ft des Ver­ste­hens

Mul­ti­a­gen­ten­sim­u­la­tio­nen stellen die kon­se­quenteste tech­nis­che Umset­zung von Wittgen­steins Bedeu­tungsphiloso­phie dar. In diesen Sys­te­men müssen Agen­ten ihre Kom­mu­nika­tion in sit­u­a­tive Hand­lungsspiele ein­binden, wobei Auf­gaben, Ziele und soziale Regeln die Kom­mu­nika­tion steuern und ihr Bedeu­tung ver­lei­hen. Durch die Inter­ak­tion spezial­isiert­er Agen­ten entste­ht eine kollek­tive Intel­li­genz, die über die reine sym­bol­is­che Ebene hin­aus­ge­ht und Hand­lungskon­texte, Ver­hand­lun­gen und Anpas­sun­gen ein­schließt.

Diese prax­isori­en­tierte Bedeu­tungserzeu­gung kön­nte die entschei­dende Entwick­lungsstufe markieren, in der kün­stliche Intel­li­genz nicht nur Sym­bole manip­uliert, son­dern begin­nt, in der Welt zu han­deln und dabei authen­tis­che Bedeu­tung zu schaf­fen. In ein­er Zukun­ft, in der KI-Sys­teme durch soziale Inter­ak­tion und gemein­same Prax­is ler­nen, rückt das Ziel eines echt­en, kon­tex­tu­al­isierten Ver­ste­hens in greif­bare Nähe.

Die Rev­o­lu­tion liegt nicht in immer größeren Sprach­mod­ellen, son­dern in KI-Sys­te­men, die wie Men­schen durch soziale Ein­bet­tung und prak­tis­che Erfahrung Bedeu­tung entwick­eln – genau das, was Mul­ti­a­gen­ten­sim­u­la­tio­nen heute möglich machen.


Als Videoüber­sicht (in Englisch)

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