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Von Ralf Keu­per

Neue Tech­nolo­gien brin­gen für gewöhn­lich große Her­aus­forderun­gen für Insti­tu­tio­nen, Unternehmen, Gesellschaften wie auch für das Ver­hält­nis der Staat­en untere­inan­der mit sich — die Gewichte ver­schieben sich. Mit der mod­er­nen KI ergeben sich neue Kon­stel­la­tio­nen und Chan­cen, aber auch Risiken, die nach neuen Antworten und Denkan­sätzen ver­lan­gen.

Zum Ende seines Lebens set­zte sich Hen­ry A. Kissinger inten­siv mit der Frage auseinan­der, inwieweit die mod­erne KI den Lauf der Geschichte bee­in­flusst. Kissinger war der Ansicht, dass das Aufkom­men der KI eine neue Epoche in der Geschichte ein­leit­en werde, die in ihren Auswirkun­gen mit der Aufk­lärung des 18. Jahrhun­derts ver­gle­ich­bar sei, da sie das men­schliche Denken auf tief­greifende und uner­wartete Weise verän­dern kann. Die größte Gefahr bestand für ihn darin, dass wir zu früh oder zu vol­lum­fänglich erk­lären, dass wir sie ver­ste­hen.

Seine Co-Autoren, Eric Schmidt, ehe­ma­liger Chef von Google, und Craig Mundie, langjähriger Chief Research and Strat­e­gy Offi­cer von Microsoft, set­zen die Gedanke­nar­beit von Kissinger in dem Buch KI-Gen­e­sis. Der Beginn eines neuen Zeital­ters fort.

KI als ulti­ma­tiv­er Uni­ver­sal­gelehrter

In der Ver­gan­gen­heit waren Uni­ver­sal­gelehrte wie Leib­niz oder Leonar­do da Vin­ci in der Lage, den Wis­sens­stand ihrer Zeit zu überblick­en. Daneben gab es sicher­lich noch weit­ere gelehrte Men­schen mit bre­it­em Wis­sen, die jedoch kaum Beach­tung fan­den, da die Möglichkeit­en zum Aus­tausch aus viel­er­lei Grün­den stark eingeschränkt waren. Häu­fig wussten sie nichts von der Exis­tenz der anderen und ihren Forschun­gen. Spätestens mit der KI sind die alten Beschränkun­gen ange­hoben. Die KI kann Unmen­gen von Infor­ma­tio­nen in atem­ber­auben­der Geschwindigkeit ver­ar­beit­en und darstellen. Dabei bew­ertet sie Muster in zahllosen Dimen­sio­nen und Bere­ichen gle­ichzeit­ig und schafft so eine noch nie dagewe­sene Kon­nek­tiv­ität, so Schmidt und Mun­dle. Die “Ein­heit des Wis­sens”, wie sie von dem Sozio­bi­olo­gen E.O. Wil­son for­muliert wurde, scheint in greif­bar­er Nähe. Dank der KI erre­ichen wir eine neue Stufe der kollek­tiv­en Intel­li­genz. Natio­nen, welche die Möglichkeit­en der KI für neue wis­senschaftliche Ent­deck­un­gen nutzen, wer­den die Nase vorn haben. Das wiederum kann neue Ungle­ich­heit­en zwis­chen den Staat­en erzeu­gen und bere­its beste­hende ver­stärken.

Her­aus­forderung für die men­schliche Exis­tenz

Wenn die KI den Men­schen bei allen intellek­tuellen Fähigkeit­en um ein Vielfach­es über­trifft und dem­nächst wom­öglich auch noch kreativ und schöpferisch tätig ist, was macht dann noch die men­schliche Exis­tenz aus? Welche Rolle soll­ten die Men­schen ein­nehmen — eine pas­siv-abwartende oder eine aktiv-gestal­tende? Wieviel Autonomie soll­ten wir KI-Sys­te­men zugeste­hen? Soll­ten wir sie aus ihrem algo­rith­mis­chen Gefäng­nis befreien?

Wed­er ist die Hal­tung, den Maschi­nen got­tähn­liche Fähigkeit­en zuzuschreiben und sich ihrer Führung zu unter­w­er­fen eine sin­nvolle Alter­na­tive, noch die Flucht in einen men­schen­zen­tri­erten Sub­jek­tivis­mus, der das Poten­zial der KI, irgen­dein Maß an objek­tiv­er Wahrheit zu erre­ichen, und KI-Aktiv­itäten ver­bi­etet. Die Autoren argu­men­tieren, dass bei­de Sichtweisen dazu führen wür­den, die Evo­lu­tion unser­er Spezies zu ver­hin­dern.

Mod­erne Staats­führung mit KI  

Der größte Nutzen der KI beste­ht darin, Szenar­ien zu ersin­nen und zu durch­denken, auf die wir Men­schen so oder so schnell nicht kom­men wür­den. Das Ergeb­nis wären völ­lig neue Lösun­gen und Denkan­sätze, die sich in der Poli­tik und Wirtschaft zur Entschei­dung­sun­ter­stützung ver­wen­den ließen. Die mod­erne Staats­führung kommt nach Ansicht der Autoren auf Dauer nicht mehr ohne den Ein­satz der KI aus. Statt sich wie bish­er auf his­torische Erfahrun­gen zu stützen, wird die KI mit ihrem nahezu per­fek­ten Wis­sen das Feld der Möglichkeit­en und der Fol­gen­ab­schätzung deut­lich erweit­ern. Dabei gelte es die richtige Bal­ance zwis­chen den Extremen Despo­tismus und Anar­chie zu find­en.

Neue For­men des Wirtschaftens 

Die Erfolge KI-gestützter Ver­fahren zur Ent­deck­ung neuer Mate­ri­alien und Wirk­stoffe sind schon jet­zt beachtlich. In Zukun­ft kön­nte die KI für die Erforschung und Entwick­lung neuer und gün­stiger Rohstof­fquellen, die über­wiegend syn­thetis­ch­er Art sind. Im Finanzwe­sen sind neue Net­zw­erke denkbar, die sich an der Infor­ma­tion­s­the­o­rie ori­en­tieren. Geld habe heute viel mit ein­er Inter­netverbindung gemein­sam, die, um Nutzen zu stiften, einen rela­tionalen Kon­text erfordert. Die KI kön­nte hier zwis­chen der tra­di­tionellen Funk­tion des Geldes als Wer­tauf­be­wahrungsmit­tel und Tauschmit­tel ver­mit­teln.

Eben­so wird sich unser Ver­hält­nis zur Arbeit als Mit­tel zur Sinns­tiftung verän­dern. Eine Welt ohne men­schliche Arbeit ist dank KI vorstell­bar. Welche Betä­ti­gungs­felder bleiben auf Dauer noch für die Men­schen? Denkbar ist, dass die Men­schen sich den­noch dazu entschei­den, weit­er zu arbeit­en — allerd­ings mith­il­fe der KI als Part­ner. Erforder­lich seien dazu Sys­teme für die Verteilung, Verbindung, Beteili­gung und Bil­dung. Die Men­schen wür­den dann nicht mehr gegen Bezahlung arbeit­en, son­dern um Stolz und Freude zu empfind­en.

Sym­biose von Men­sch und Mas­chine 

Men­sch und Mas­chine kön­nten sich über den Ein­satz entsprechen­der Schnittstellen gemein­sam weit­er entwick­eln. So kön­nte die Gesellschaft eine Erblin­ie entwer­fen, die auf ihre Eig­nung für die Zusam­me­nar­beit mit der KI zugeschnit­ten ist. Die Verän­derung des genetis­chen Codes der Men­schen durch KI kön­nte die Abhängigkeit der Men­schen von der Tech­nik erhöhen und uns irgend­wann zu Sklaven machen. Um dieses Szenario zu ver­mei­den, müssen wir uns nach Ansicht der Autoren nach Alter­na­tiv­en umse­hen.

Men­schliche Regeln geben den Takt vor

Die Autoren ver­weisen auf die Bemühun­gen, KI-Mod­elle mit sog. Ground Truths, men­schlich­er Regeln, zu erden und zu ver­hin­dern, dass die Sys­teme sich verselb­ständi­gen. Daraus kön­nte ein Geset­zbuch der KI entste­hen, das auf ver­schiede­nen Ver­wal­tungsebe­nen ange­siedelt ist: auf lokaler, Bezirks‑, Landes‑, Bun­des- und inter­na­tionaler Ebene. Dabei kön­nten Präze­den­zfälle, Recht­sprechung und wis­senschaftliche Kom­mentare gle­ichzeit­ig berück­sichtigt wer­den.

Ein ander­er Ansatz stützt sich auf die Arbeit­en des franzö­sis­chen Sozi­olo­gen Pierre Bour­dieu, wonach unsere grundle­gen­den, instink­tiv­en und uni­versellen men­schlichen Überzeu­gun­gen robuster und beständi­ger sind, als jede Regel, die durch Bestra­fung durchge­set­zt wird. Bour­dieu wählte dafür den Begriff Doxa. Doxa repräsen­tieren einen Code men­schlich­er Wahrheit, der typ­isch für den Men­schen ist, der aber nicht durch fest kodierte Arte­fak­te dargestellt wird. Sie wer­den ein­fach beobachtet und im Laufe des men­schlichen Lebens aufgenom­men. 

Jeden­falls müssten die KI-Sys­teme mit ver­schiede­nen Regel­w­erken und Doxa trainiert wer­den.

Die Unternehmen kön­nten mit staatlich­er Bewil­li­gung und wis­senschaftlich­er Unter­stützung “Geound­ing-Mod­elle” entwick­eln. Weit­er­hin müssten eine Rei­he von Vali­dierung­stests für die Zer­ti­fizierung eines Mod­ells entwick­elt wer­den. Eine Überwachungs-KI würde die Ver­wen­dung von KI-Agen­ten überwachen, die sich mit ihrem Überwach­er berat­en wür­den, bevor sie mit ein­er Auf­gabe fort­fahren. Lab­o­ra­to­rien und gemein­nützige Organ­i­sa­tio­nen kön­nten sowohl KI-Agen­ten als auch KI-Überwach­er auf ihre Risiken hin testen und bei Bedarf zusät­zliche Train­ings- und Vali­dierungssys­teme empfehlen. Die Geound­ing-Mod­elle müssen mit den Agen­ten­mod­ellen ver­bun­den und diese ständig mit der neuesten Ver­sion des kuratierten Kodex­es aktu­al­isiert wer­den. 

Men­schliche Würde

Die eigentliche Gren­ze, die auch die ambi­tion­iertesten KI-Pro­jek­te zu akzep­tieren haben, ist die men­schliche Würde. Die Autoren definieren Würde als eine Eigen­schaft, die den Geschöpfen innewohnt, die ver­let­zlich und sterblich und damit voller Unsicher­heit geboren wer­den und trotz ihrer natür­lichen Nei­gun­gen ihre Frei­heit­en ausüben kön­nen, nicht ihrer Vorstel­lung vom Bösen zu fol­gen, son­dern ihre Vorstel­lung vom Guten zu wählen. 

KI-Sys­teme besitzen demzu­folge keine Würde. Sie wer­den nicht geboren, sie ster­ben nicht, fühlen wed­er Unsicher­heit noch Angst und haben keine natür­lichen Nei­gun­gen der Indi­vid­u­al­ität. Zwar kön­nen sie Gefüh­le aus­drück­en oder nachah­men — sie soll­ten jedoch wie lit­er­arische Fig­uren behan­delt wer­den.

Die Autoren wün­schen sich eine Zukun­ft, in der sich men­schliche und maschinelle Intel­li­genz gegen­seit­ig unter­stützen. Dabei stützen sie sich auf den Glauben an die Men­schen­würde, der sich zuver­sichtlich macht, dass sich Men­sch und KI sin­nvoll miteinan­der in Ein­klang brin­gen lassen.

Bew­er­tung

Das Buch liefert wichtige Ein­sicht­en in den aktuellen Stand der KI-Entwick­lung. Die Autoren beto­nen die Chan­cen der KI, ohne die poten­ziellen Risiken auszublenden. Sie vertreten einen mod­er­at­en Ansatz, der ganz klar für den Ein­satz der KI auf möglichst vie­len Feldern plädiert. Risiken müssen dabei in Kauf genom­men wer­den. An eini­gen Stellen sind sie für den Ver­fass­er etwas zu opti­mistisch — etwa, was die Möglichkeit­en der KI in Sachen Kreativ­ität und Schöp­fung bet­rifft. Die Kör­per­lichkeit des Men­schen set­zt den Bestre­bun­gen der KI-Forschung, die men­schliche Intel­li­genz und Schöpfer­kraft zu erset­zen, — bish­er jeden­falls — Gren­zen. Pos­i­tiv ist zu werten, dass die Autoren den Begriff der Würde ein­führen, um zu verdeut­lichen, was uns Men­schen von KI-Sys­te­men wesentlich unter­schei­det. Eben­falls zu begrüßen sind die Gedanken zur Ein­führung eines Regel­w­erkes, das ein Min­dest­maß an Ver­lässlichkeit und Ver­trauen in KI-Sys­teme her­stellen kann.

Der Text als Pod­cast

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