Getting your Trinity Audio player ready...
|
Von Ralf Keuper
Auf den ersten Blick haben Generative KI und Existenzphilosophie kaum Gemeinsamkeiten. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass Existenzphilosophen wie Karl Jaspers, Martin Heidegger oder Jean-Paul Sartre, die Generative KI nicht kannten und wohl auch mit dem Konzept der Künstlichen Intelligenz wenig bis gar nichts hätten anfangen können.
Wie dem auch sei. Trotz der genannten Einschränkungen haben sich Existenzphilosophen, wie in diesem Fall Karl Jaspers, mit Fragen auseinandergesetzt, die durchaus einige Problemstellungen behandeln, die heute von der Generativen KI bzw. Großen Sprachmodellen erst so richtig ins allgemeine Bewusstsein gerückt sind.
In einem Text aus seinem Hauptwerk Philosophie I — Philosophische Weltorientierung, erschienen 1932, geht Jaspers auf folgendes Gedankenexperiment ein:
Die Äußerlichkeit geistigen Ausdrucks in der Sprache ist durch eine Kombination aus 25 Buchstaben möglich. Da nun Bücher von bestimmter Seitenzahl mit begrenzter Buchstabenmenge eines auf eine beschränkte Buchstabenzahl beschränkten Alphabets nur in einer endlichen, nennbaren, wenn auch ungeheuer großen Anzahl möglich sind, würden unter diesen sinnlosen Buchstabenanhäufungen als eine verschwindende Anzahl auch sinnvolle Bücher sein, und unter diesen die geschaffenen und alle nur möglichen Werke in allen möglichen Sprachen. Würde man einen Apparat erfinden, durch den vermöge der Permutation der Buchstaben alle diese Werke mechanisch hergestellt würden, so würde der Apparat zwar bei riesenhafter Schnelligkeit eine riesenhafte Zeit brauchen, um die Möglichkeiten zu erschöpfen, und vielleicht würde selbst die Einsteinsche Welt nicht genügend Platz haben für diese Büchermassen. Aber der abstrakte Gedanke zeigt, dass sinnvolle Sprachwerke als endlich berechenbare Zufälle unter den Permutationsnotwendigkeiten als sehr seltene Fälle auftreten müssen. Und doch ist der Gedanke praktisch unvollziehbar. Denn jene geistigen Werke wären ja nur als Buchstabenanhäufungen vorhanden; man könnte keinen Apparat erfinden, der aus der Unsumme der Buchstabenanhäufungen diejenigen auslesen würde, die einen Sinn hätten. Zur Auffindung eines sinnvollen Buches unter den Buchstabenpermutationen wäre ein lebendiger Geist nötig. Jedoch endlichen Geistern würde es nie gelingen, ein sinnvolles Buch zu finden; man könnte wohl die ganze Erdoberfläche mit einer Zahl dieser Bücher anfüllen, ohne eine erhebliche Chance zu haben, ein Sinnvolles anzutreffen; würden sie aber irgendwo ein sinnvolles Buch tatsächlich finden, so würden sie dieses mit unzweifelhafter Gewissheit als das Produkt eines Vernunftwesens ansprechen. Man müsste aber schon wegen der praktischen Endlosigkeit es verwerfen, einen solchen Apparat zu konstruieren; denn keine Zeitdauer, die mit den faktischen Möglichkeiten des Lebens verträglich wäre, konnte auf dem äußerlichen Wege das Ziel erreichen. …
Während jener Apparat, der alle Permutationen jeweils bestimmter Anzahlen von Buchstaben herstellt, selbst ganz endlich und durchschaubar wäre, seine Produkte riesenhaft aber faktisch an Zahl berechenbar bleiben und darin Sprachwerke äußerlich als Buchstabenanhäufungen einschlössen, ist die Unendlichkeit in der Produktivität undurchschaubar. Diese ist nicht Endlosigkeit des Mechanischen in berechenbarer Variation, sondern eine Unendlichkeit, die Möglichkeit mit Wahl vereinigt, nicht erst herstellt und dann wählt, sondern aus unverwirklichten Möglichkeiten schon vor ihrem Auftauchen wählt, und im Zusammenhang unbegrenzter Vertiefung und Steigerung schafft. Diese Undenlichkeit ist durch keine noch so große endliche Kombination auszudenken. Sie übergreift selbst die Endlosigkeit, die sie als ihren Abweg meidet. Was äußerlich im Buchstabenwerk eingeschlossen war in endlichen Möglichkeiten, wird Schöpfung der Unendlichkeit des produktiven, konzentrierenden Geistes, der alle jene Äußerlichkeiten unter sich hat und doch in keinem Werk sich selbst vollendet. Er ist Bewegung in der Zeit, in endlichen Gestalten sich offenbarend, immer aber zugleich mehr als sie. Er ist Unendlichkeit im Wirklichen als Prozess der Überwindung des Endlosen.
Jetzt könnte man leicht annehmen, Jaspers bezöge sich auf das Konzept der Bibliothek von Babel von Jorge Louis Borges. Jedoch hat Borges sein Werk erst 1941 verfasst, zu einem Zeitpunkt, als Jaspers sein Hauptwerk schon längst veröffentlicht hatte. Woher Jaspers das Gedankenexperiment kannte, konnte ich nicht ausfindig mache. Von Borges jedenfalls nicht.
Auf die Frage, was Jaspers mit seinem Text zum Ausdruck bringen wollte, antwortet Perplexity:
Das beschriebene Gedankenexperiment thematisiert die Kombinatorik sprachlicher Zeichen und die begrenzte Ausdruckskapazität formaler Systeme.
Kernprinzip des Experiments
- Endlichkeit der Kombinationsmöglichkeiten: Bei einem Alphabet mit 25 Buchstaben und fixierter Buchlänge (Seitenzahl × Zeichen pro Seite) existieren nur endlich viele mögliche Bücher – mathematisch berechenbar, aber praktisch unvorstellbar groß.
- Sinn vs. Zufall: In dieser Menge finden sich alle jemals geschriebenen und möglichen Werke, jedoch als verschwindend kleiner Anteil unter überwiegend sinnlosen Buchstabenkombinationen.
- Sprachsystematische Grenzen: Die Relationalität von Zeichen (de Saussure) zeigt: Bedeutung entsteht erst durch spezifische Kombinationsregeln, nicht durch bloße Aneinanderreihung von Symbolen.
Theoretische Bezüge in den Quellen
- Symbolkodierung und Informationsverlust: Mathematische Modelle abstrahieren von konkreter Erfahrung und führen zwangsläufig zu Informationsreduktion (z. B. Addition 4 + 7 → 11, ohne Rückverfolgbarkeit der Ursprungsdaten).
- Formale Sprachen vs. natürliche Semantik: Während Σ* (Menge aller Wörter über einem Alphabet) unendlich ist, bilden sinnvolle Sprachen wie Deutsch nur eine Teilmenge mit eigenen Grammatikregeln.
- Medienarchäologische Perspektive: Technische Speichermedien ermöglichen zwar Kombinatorik, aber narrative Sinnstiftung bleibt ein menschlicher Akt – algorithmische Generierung von Texten überwindet nicht die Kluft zwischen Zeichen und Bedeutung.
Implikationen des Experiments
- Erkenntnistheoretisch: Verweist auf die Arbitrarität sprachlicher Zeichen und die Notwendigkeit kontextueller Einbettung für Sinn.
- Kulturtheoretisch: Unterstreicht die Rolle von Selektionsmechanismen (z. B. Literaturkanon), die aus dem kombinatorischen Universum sinnhafte Werke herausfiltern.
- Medienphilosophisch: Macht die Paradoxie technischer Speichermedien sichtbar – sie ermöglichen potentiell unendliche Reproduktion, aber keine Garantie für Verstehbarkeit.
Dieses Gedankenexperiment verdeutlicht somit grundlegende Spannungen zwischen formaler Kombinatorik und semantischer Emergenz in menschlicher Kommunikation.