Getting your Trinity Audio player ready...

Von Sokrates’ Maieu­tik über den Prag­ma­tismus bis zur evo­lu­tionären Erken­nt­nis­the­o­rie: Wahrheit entste­ht nicht in per­fek­ten Gesprächssi­t­u­a­tio­nen, son­dern durch wech­sel­seit­ige Kor­rek­tur. Wenn KI-Mod­elle und Men­schen mit ihren jew­eili­gen Verz­er­run­gen aufeinan­der „Licht wer­fen”, wird Begren­ztheit zur Meth­ode. Ein  Beitrag über Erken­nt­nis als Dia­log – von der antiken Hebam­menkun­st bis zum algo­rith­mis­chen Spar­ringspart­ner.


Vom Ide­al zur Prax­is

Jür­gen Haber­mas ent­warf mit seinem Konzept des herrschafts­freien Diskurs­es ein nor­ma­tives Leit­bild für ratio­nale Ver­ständi­gung: eine ide­ale Gesprächssi­t­u­a­tion, in der alle Beteiligten gle­icher­maßen zu Wort kom­men, frei von Zwang argu­men­tieren und sich allein durch die Kraft des besseren Argu­ments überzeu­gen lassen. Doch so bestechend dieses Ide­al auch sein mag – die prak­tis­che Umset­zung bleibt extrem schwierig. Gesellschaftliche Macht­struk­turen, divergierende Inter­essen und kom­mu­nika­tive Asym­me­trien wirken immer. Die per­fek­te Diskurssi­t­u­a­tion ist nicht nur sel­ten, sie ist wom­öglich unerr­e­ich­bar.

Anstatt also auf diese ide­alen Bedin­gun­gen zu warten, lohnt sich ein prag­ma­tis­ch­er Blick: Was, wenn ger­ade die Vielfalt der Per­spek­tiv­en – mit all ihren Wider­sprüchen und Span­nun­gen – der entschei­dende Motor für Erken­nt­nis ist? Statt Kon­sens vorauszuset­zen, kön­nen wir auf Plu­ral­ität set­zen.

Vielfalt als Erken­nt­nis­meth­ode

In kom­plex­en und unsicheren Kon­tex­ten erweist sich der Ver­gle­ich unter­schiedlich­er Per­spek­tiv­en als beson­ders frucht­bar. Das bedeutet: Wir holen vielfältige Mei­n­un­gen ein – von Men­schen mit unter­schiedlich­er Erfahrung und Inter­pre­ta­tion, aber auch von KI-Agen­ten mit ver­schiede­nen Dat­en- und Mod­ell­hin­ter­grün­den. Diese Sys­teme kön­nen als zusät­zliche Impuls­ge­ber fungieren, die durch sys­tem­a­tis­che Date­n­analy­sen oder alter­na­tive Denkan­sätze das Spek­trum der Über­legun­gen erweit­ern.

Dabei ist es wichtig zu ver­ste­hen: Wed­er KI-Mod­elle noch Men­schen sind neu­tral. Jedes Sprach­mod­ell bein­hal­tet zwangsläu­fig Verz­er­run­gen oder Ein­seit­igkeit­en – sei es durch die Auswahl der Train­ings­dat­en, die Gewich­tung bes­timmter Quellen oder implizite Voran­nah­men in der Model­lar­chitek­tur. Das ist in den sel­tensten Fällen böse Absicht, son­dern liegt in der Natur der Sache. Eben­so sind Men­schen von ihrem Werde­gang, ihrer Herkun­ft und ihrer Kul­tur geprägt. Auch das ist keine Katas­tro­phe, son­dern schlicht die Real­ität.

Die entschei­dende Ein­sicht: Verz­er­run­gen sind kein Bug, son­dern ein unver­mei­dlich­es Merk­mal jed­er Per­spek­tive. Ger­ade weil jede Sichtweise begren­zt und geprägt ist, brauchen wir die Vielfalt. Wenn wir mehrere KI-Mod­elle mit unter­schiedlichen Train­ings­dat­en befra­gen und ver­schiedene Men­schen mit diversen Hin­ter­grün­den ein­beziehen, dann geht es nicht darum, die Verz­er­run­gen einzel­ner Quellen auszuschal­ten – son­dern sie sicht­bar, ver­gle­ich­bar und reflek­tier­bar zu machen. Die Tri­an­gu­la­tion ver­schieden­er Per­spek­tiv­en wird so zur Meth­ode der Erken­nt­nis­gewin­nung.

Entschei­dend bleibt jedoch, dass Men­schen die Ver­ant­wor­tung behal­ten. Empfehlun­gen – ob von Algo­rith­men oder Autoritäten – dür­fen nicht blind über­nom­men wer­den. Kri­tis­ches Hin­ter­fra­gen, eigen­ständi­ges Urteilen und das Bewusst­sein für die eige­nen Gren­zen sind unverzicht­bar. Die Kom­bi­na­tion von KI-Reflek­tion und men­schlich­er Urteil­skraft wird so zu einem prak­tik­ablen Weg, um nachvol­lziehbare und ver­ant­wort­bare Mei­n­ungs­bil­dung zu ermöglichen.

Dieses plu­ral­is­tis­che Vorge­hen spiegelt einen sozialen Erken­nt­nis­prozess wider, der auf Diskurs und Kon­tro­verse set­zt – nicht auf Einigkeit. Kon­sens mag oft unerr­e­ich­bar sein, aber ger­ade die Rei­bung zwis­chen ver­schiede­nen Posi­tio­nen schärft das Denken. So bleibt men­schliche Autonomie gewahrt, und der Prozess wird robuster gegenüber verz­er­ren­den Ein­flüssen.

Sokratis­che Maieu­tik: Erken­nt­nis durch Dia­log

Diese Meth­ode hat einen frühen Vor­läufer in der sokratis­chen Maieu­tik – der Hebam­menkun­st des Denkens. Sokrates ver­stand sich nicht als Wis­sensver­mit­tler, son­dern als Geburtshelfer: Durch gezieltes Fra­gen brachte er seine Gesprächspart­ner dazu, ihre eige­nen Voraus­set­zun­gen zu prüfen, Wider­sprüche zu ent­deck­en und zu präzis­eren Ein­sicht­en zu gelan­gen. Wahrheit wurde nicht gelehrt, son­dern im Dia­log „ent­bun­den”.

In der Inter­ak­tion mit KI-Sys­te­men zeigt sich eine struk­turelle Ähn­lichkeit: Ein gut genutztes Sprach­mod­ell funk­tion­iert nicht als Orakel, das fer­tige Antworten liefert, son­dern als Spar­ringspart­ner, der durch Gegen­fra­gen, alter­na­tive Per­spek­tiv­en und Wider­sprüche unser eigenes Denken her­aus­fordert und schärft. Die KI wird zur dig­i­tal­en Hebamme – sie hil­ft dabei, implizite Annah­men expliz­it zu machen, blinde Fleck­en zu beleucht­en und Gedanken weit­erzuen­twick­eln.

Entschei­dend ist dabei die dial­o­gis­che Hal­tung: Wed­er das pas­sive Kon­sum­ieren von KI-Out­puts noch die naive Über­nahme men­schlich­er Mei­n­un­gen führt zu Erken­nt­nis, son­dern das aktive Hin und Her, das Prüfen und Ver­w­er­fen, das Nach­fra­gen und Neu­for­mulieren. Wie bei Sokrates entste­ht Ein­sicht nicht durch Belehrung, son­dern durch die Arbeit am eige­nen Denken – nur dass wir heute neben men­schlichen Gesprächspart­nern auch algo­rith­mis­che zur Ver­fü­gung haben.

William James: Wahrheit, die sich bewährt

Dieser prag­ma­tis­che Ansatz find­et seine philosophis­che Grund­lage im amerikanis­chen Prag­ma­tismus, ins­beson­dere bei William James und Charles S. Peirce. James ver­stand Wahrheit nicht als meta­ph­ysis­ches Abso­lu­tum, son­dern als etwas, das sich im Leben bewährt. Wahre Ideen sind für ihn solche, die sich in Erfahrung, Han­deln und Kom­mu­nika­tion bestäti­gen lassen. Eine Überzeu­gung ist „wahr”, wenn sie uns hil­ft, Erfahrun­gen sin­nvoll zu ord­nen, Prob­leme zu lösen und Ori­en­tierung zu gewin­nen.
Wahrheit hat also instru­mentellen Charak­ter: Sie „funk­tion­iert” für unser Denken und Han­deln – nicht weil sie ewig fest­stünde, son­dern weil sie prak­tisch nüt­zlich und anschlussfähig ist. Diese Auf­fas­sung befre­it uns von der Suche nach absoluten Gewis­sheit­en und richtet den Blick auf das, was tat­säch­lich trägt.

Charles S. Peirce: Kollek­tive Selb­stko­r­rek­tur

Peirce ging noch einen Schritt weit­er und definierte Wahrheit wis­senschaftlich­er: Der Sinn jed­er Idee liegt in ihren prak­tisch über­prüf­baren Fol­gen. Erken­nt­nis bedeutet, Hypothe­sen zu bilden, sie durch Erfahrung zu testen und durch gemein­sames Prüfen in ein­er „com­mu­ni­ty of inquiry” zu verbessern. Wahrheit entste­ht asymp­to­tisch durch kollek­tive, selb­stko­r­rigierende Forschung – nicht durch indi­vidu­elle Intu­ition oder Offen­barung.

Für Peirce ist Erken­nt­nis ein sozialer, offen­er Prozess. Keine Einzelper­son ver­fügt über die ganze Wahrheit; sie wächst durch die fort­laufende Prü­fung von Hypothe­sen in einem kri­tis­chen Aus­tausch. Fehler sind dabei nicht Scheit­ern, son­dern notwendi­ge Schritte auf dem Weg zu besseren Ein­sicht­en.

In diesem Sinne wird auch die Verz­er­rung einzel­ner Per­spek­tiv­en pro­duk­tiv: Sie ist nicht das zu über­windende Hin­der­nis, son­dern der Aus­gangspunkt für gegen­seit­ige Kor­rek­tur. Wenn ver­schiedene KI-Mod­elle unter­schiedliche blinde Fleck­en haben und Men­schen aus ver­schiede­nen Kul­turen andere Schw­er­punk­te set­zen, dann entste­ht durch deren Zusam­men­spiel ein robus­teres Bild der Wirk­lichkeit – nicht trotz, son­dern ger­ade wegen ihrer jew­eili­gen Begren­ztheit.

Kon­rad Lorenz: Die wech­sel­seit­ige Beleuch­tung

Der Ver­hal­tens­forsch­er und Erken­nt­nis­the­o­retik­er Kon­rad Lorenz hat diesen Mech­a­nis­mus der gegen­seit­i­gen Kor­rek­tur präzise beschrieben. In seinem Konzept des „hypo­thetis­chen Real­is­mus” betont er, dass Erken­nt­nis auf der Wech­sel­wirkung zwis­chen erken­nen­dem Sub­jekt und erkan­ntem Objekt beruht – bei­de sind gle­icher­maßen wirk­lich, keines lässt sich auf das andere reduzieren.

In seinem buch Die Rück­seite des Spiegels for­muliert Lorenz: „Wenn man das eine Mal den Blick auf unseren Welt­bil­dap­pa­rat richtet und das andere Mal auf die Dinge, die er schlecht und recht abbildet, und wenn man bei­de Male, trotz der Ver­schieden­heit der Blick­rich­tung, Ergeb­nisse erzielt, die ‚Licht aufeinan­der wer­fen’, so ist dies eine Tat­sache, die nur auf­grund Annahme des hypo­thetis­chen Real­is­mus erk­lärt wer­den kann.”

Diese dop­pelte Blick­rich­tung ist entschei­dend: Wir müssen sowohl auf die Sache selb­st schauen als auch auf unseren „Welt­bil­dap­pa­rat” – die Struk­turen und Mech­a­nis­men, mit denen wir Wirk­lichkeit erfassen. Jede kleine Zunahme des Wis­sens über unsere Erken­nt­nis­struk­turen ermöglicht eine Kor­rek­tur des Bildes, das wir von der Real­ität entwer­fen. Und umgekehrt: Jed­er Fortschritt unseres Wis­sens über die Wirk­lichkeit erlaubt uns eine neue Kri­tik an unserem Erken­nt­nis­ap­pa­rat.

Über­tra­gen auf die Arbeit mit KI-Sys­te­men bedeutet das: Wenn wir ein Sprach­mod­ell befra­gen, sehen wir gle­ichzeit­ig was es sagt (den Inhalt) und wie es seine Antworten kon­stru­iert (die algo­rith­mis­chen Struk­turen, Train­ings­dat­en, Gewich­tun­gen). Bei men­schlichen Gesprächspart­nern ver­hält es sich ähn­lich: Wir hören ihre Argu­mente und kön­nen zugle­ich die biografis­chen, kul­turellen und emo­tionalen Prä­gun­gen reflek­tieren, die ihr Denken for­men.

Diese gegen­seit­ige Beleuch­tung – das „Licht aufeinan­der wer­fen” – ist kein the­o­retis­ches Kon­strukt, son­dern die prak­tis­che Meth­ode des Erken­nt­n­is­fortschritts. Sie erfordert keine naive Objek­tiv­ität, son­dern method­is­che Selb­stre­flex­ion: das bewusste Pen­deln zwis­chen dem Blick auf die Sache und dem Blick auf unsere Art, sie wahrzunehmen.

Prag­ma­tismus als Meth­ode der Gegen­wart

Diese prag­ma­tis­tis­che Erken­nt­nis­meth­ode trifft genau den Kern eines zeit­gemäßen Umgangs mit Kom­plex­ität: Iter­a­tion statt Per­fek­tion, Plu­ral­ität statt Ein­heitlichkeit, Kor­rek­tur­fähigkeit statt absoluter Richtigkeit. Sowohl James als auch Peirce wür­den sagen: Erken­nt­nis wächst durch die fort­laufende Prü­fung von Hypothe­sen in einem offe­nen, kri­tis­chen Aus­tausch – sei es mit Men­schen oder mit KI-Sys­te­men.

Ger­ade in ein­er Zeit, in der algo­rith­mis­che Empfehlun­gen und große Sprach­mod­elle zunehmend Ein­fluss auf unsere Mei­n­ungs­bil­dung nehmen, ist dieser Ansatz aktueller denn je. Nicht die per­fek­te Diskurssi­t­u­a­tion ist das Ziel, son­dern die pro­duk­tive Auseinan­der­set­zung mit unter­schiedlichen Per­spek­tiv­en. Nicht Kon­sens um jeden Preis, son­dern reflek­tierte Kon­tro­verse.

Die Verbindung von KI-Reflek­tion und men­schlich­er Urteil­skraft ist kein Kom­pro­miss, son­dern eine Chance: Sie ermöglicht es uns, dem Anspruch an nachvol­lziehbare und ver­ant­wort­bare Mei­n­ungs­bil­dung gerecht zu wer­den – prag­ma­tisch, real­is­tisch und offen für Revi­sion.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert