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Im Gespräch mit Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer (AWS), Gründer und Alleingesellschafter der August-Wilhelm Scheer Holding GmbH und Dr. Wolfram Jost (WJ), CEO der Scheer IDS GmbH
- Herr Prof. Scheer, wie würden Sie die Entwicklung im Bereich der Unternehmenssoftware-Lösungen der letzten Jahrzehnte beschreiben — gibt es wiederkehrende Muster?

AWS: Bei Software gibt es das Spannungsverhältnis bei der Anschaffungsentscheidung zwischen „best of breed“ und „best of suites“. Bei „best of breed“ wird für jeden Unternehmensprozess die am besten geeignete Software ausgewählt. Bei „best of suites“ wird zwischen integrierten Softwarefamilien entschieden, die aber nicht für jede einzelne Funktion die beste Lösung bieten. Am Anfang wurde Unternehmenssoftware auf einzelne Prozesse ausgerichtet. So gab es Angebote für Vertrieb, Beschaffung, Personal oder Produktion. Man konnte also nur nach „best of breed“ entscheiden. Bei diesem Ansatz besteht das Problem der Datenintegration. Jede einzelne Funktion verwaltet ihre eigenen Daten mit ihren eigenen Formaten. Da Prozesse sich aber durch diese Funktionen hindurchbewegen, müssen die Daten zwischen den einzelnen Systemen technisch ausgetauscht und inhaltlich angepasst werden. Mit dem Aufkommen der ERP-Systeme wurde dieses Problem gelöst, indem eine Datenbank für das Gesamtsystem eingerichtet wird. Jedes Datenelement wird nur einmal erfasst und steht allen Funktionen zur Verfügung. Damit ist das Problem der Datenintegration automatisch gelöst. Hier war deshalb das Entscheidungsproblem auf die beste ERP-Lösung ausgerichtet und dem „best of suit“ gefolgt. Da das Datenproblem durch die einheitliche Datenbank gelöst ist, kann man sich mehr den Prozessen widmen, um sie zu verschlanken und zu optimieren.
Mit dem Aufkommen von Cloud-Lösungen kamen aber neue Angebote, die auf bestimmte Teilprozesse wie Customer Relationship Management, Personalverwaltung oder Einkauf ausgerichtet wurden. Da diese Systeme attraktiv für Kunden sind, entstand wieder die „best of breed“- Situation, einzelne Systeme zu einem Gesamtprozess zu integrieren. Insofern hat sich ein altes Muster wiederholt. Allerdings stehen nun verbesserte technischen Möglichkeiten zur Verfügung, Systeme zu integrieren. Dies gilt insbesondere für Plattformarchitekturen, die Integrationsmethoden und ‑werkzeuge auf Basis des API-Konzeptes anbieten.
Ich bin gespannt, wie diese Entwicklung sich weiter fortsetzen wird. Das Grundproblem, dass Prozesse aus einzelnen Funktionsblöcken zusammengesetzt und integriert werden müssen, bleibt bestehen.
Die Innovation wird eher auf einzelne Prozesse ausgerichtet sein, weil diese leichter auf neue technische und inhaltliche Entwicklungen eingehen können als ein Gesamtsystem ständig auf neue Entwicklungen anzupassen. Das Spannungsverhältnis bleibt also bestehen.
- Als Erfinder der Prozessmodellierungsmethode ARIS haben Sie die Softwareentwicklung im Bereich der ERP-Systeme, insbesondere von SAP, maßgebend beeinflusst — ist die Zeit der Prozessmodelle nicht langsam vorbei?
AWS: Die Zeit der Prozessoptimierung ist keinesfalls vorbei. Kein Unternehmen kann ohne Prozesse existieren. Allerdings ändert sich aufgrund technischer und konzeptioneller Entwicklungen die Art und Weise wie Geschäftsprozesse aus IT-Sicht modelliert und unterstützt werden können. In der ERP-Ära ging es insbesondere darum, durch Customizing unterstützen zu können. Die gegenwärtige KI-Welle ist zunächst auf die Unterstützung einzelner Funktionen innerhalb von Prozessen ausgerichtet. Wir richten damit die Lupe auf einzelne Funktionen innerhalb eines Prozesses und unterstützen sie durch KI-Agenten. Sie können selbständig die Aufgabe dieser Funktion lösen. Sie greifen dabei selbständig auf Daten und andere Agenten zu. Diese Selbstständigkeit führt aber zu einem Kontrollverlust über die Struktur des gesamten „end to end“- Prozesses. Diese Kontrolle der gesamten Prozessstruktur haben wir aber bei der Modellierung im Vordergrund gesehen. Die neue Problematik besteht deshalb darin, innerhalb eines strukturierten und modellierten Prozesses Freiheitsräume für Software- Agenten einzuräumen, aber deren Start- und Endpunkte in den gesamten Ablauf einzufangen.
- Warum sind Sie der Ansicht, dass Datenmodelle erst jetzt ihre Wirkung voll entfalten können und welchen Anteil haben große Sprachmodelle und KI-Agenten daran?
AWS: Es gibt kein KI-System ohne Daten. Daten treiben KI-Anwendungen. Deshalb begrenzen und ermöglichen die verfügbaren Daten die Aussagen eines KI-Systems. Bei individuellen Anwendungen, bei denen die eigenen Daten als Grundlage eines KI-Systems dienen, rückt die Kenntnis und Beschreibung der Daten wieder in den Vordergrund. Ich bin sicher, dass die Aufstellung eines unternehmensweiten Datenmodells für die Informationsverarbeitung wieder von grundlegender Bedeutung sein wird. Datenmodelle sind eine sehr komprimierte Darstellung von Möglichkeiten und Grenzen der Prozessorganisation. Ganz einfach gesagt: wenn die für einen Prozess benötigten Daten nicht zur Verfügung stehen, kann man einen Prozess noch so schön modellieren oder programmieren, er kann trotzdem nicht realisiert werden. Dieses ist der Grund, dass ich noch in diesem Jahr ein neues Buch zur Entwicklung unternehmensweiter Datenmodelle veröffentlichen werde.
- Herr Dr.Jost, wenn Prozesse künftig von KI-Agenten bei Bedarf — ad hoc — generiert werden können — was hat das für Konsequenzen für die Softwareentwicklung und Softwarearchitekturen?
WJ: Zunächst muss einmal festhalten werden, dass Softwareentwicklung mehr ist als Codierung. Viele glauben, dass es in der Softwareentwicklung nur um die Erzeugung von Quellcode geht. Das ist mitnichten der Fall. Software muss konzipiert, beschrieben, entwickelt, getestet, verteilt, überwacht und innovativ weiterentwickelt werden. Der wichtigste Punkt ist hierbei die Entwicklung der fachlichen Konzeption. Sie legt das Innovationspotential und damit das betriebswirtschaftliche Erfolgspotential der späteren Software fest. Und nur darum geht es bei der Softwareentwicklung. Um Business Outcomes. Die Qualität einer Software bemisst sich immer am erzielbaren Umsatz. In diesem Bereich ist die Unterstützung der KI noch relativ begrenzt bzw. nicht vorhanden. Dennoch werden KI-Agenten – und daran bestehen keine Zweifel — ganz sicher Grundbestandteil einer jeder modernen Softwareentwicklungsumgebung werden. KI-Agenten sind in der Lage, auf Grund textueller Inputs sehr schnell erste Programmiervorschläge zu erzeugen. Diese müssen aber von Softwareexperten auf ihre Qualität überprüft werden. Solange die „Verlässlichkeit des Outputs“ von KI-Agenten nicht wesentlich besser wird, wird das auch noch eine Zeit lang der Fall sein. Dennoch, um es ganz deutlich zu sagen, werden KI Agenten Teile des Softwareentwicklungsprozesses beschleunigen und somit die Produktivität (guter) Softwareentwickler enorm steigern. Aussage wie „wir brauchen zukünftig keine Softwareentwickler mehr“ sind allerdings weit jenseits der Realität.

Was das Thema Softwarearchitekturen betrifft, so stellt sich folgende zentrale Frage: Wie werden zukünftig Geschäftsprozesse in Software gegossen? Bisher war der Ansatz der, dass die betriebswirtschaftliche Logik der Geschäftsprozesse im Quellcode hart programmiert wurde. Das heißt, die durch die jeweilige Software zu unterstützenden Geschäftsprozesse wurden im Vorfeld der Entwicklung fachlich entwickelt, dokumentiert und dann in Softwarelogik umgesetzt. Somit konnten die Prozesse im Rahmen ihrer Ausführung auch nur so durchgeführt werden, wie diese vorab definiert wurden. Anpassungen dieser vorgegebenen Prozesse im Rahmen der Ausführungsphase sind zwar grundsätzlich möglich, aber nur in sehr begrenztem Maße und auch nur mit erheblichem zeitlichem Aufwand. Unter Berücksichtigung der KI-Technologie ist jetzt ein völlig anderer Ansatz denkbar. Die Geschäftsprozesse werden nicht mehr vorgedacht und hart in der Software codiert, sondern dynamisch zur Ausführungszeit von KI-Agenten generiert. Somit besteht nicht mehr die Aufgabe, sich im Vorfeld der Entwicklung zu überlegen, welche Prozesse wie ausgeführt werden sollen. Die KI-Agenten sind in der Lage, die jeweils nächsten Schritte eines Prozesses dynamisch auf Basis ihres gelernten Kontextes zu generieren und auch auszuführen. Somit fällt das „Vordenken“ weg.
- Welche Rolle können Integrationsplattformen wie Scheer PaaS bei diesem Wandel übernehmen?
WJ: Scheer PAS ist eine Plattform zur Integration und Automatisierung von Anwendungen und Geschäftsprozessen. Hierbei handelt es sich um sogenannten End-2-End Geschäftsprozesse. Diese beinhalten in der Regel sowohl repetitive Funktionen als auch Funktionen, die abhängig vom jeweiligen Kontext unterschiedlich auszuführen sind. Während keine Notwendigkeit besteht, für repetitive Funktionen AI Agenten einzusetzen, so ist dies bei dynamischen Funktionen völlig anders. Somit sind wir in einer Situation, in der End-2-End Geschäftsprozesse zukünftig sowohl klassische als auch dynamischen Funktionen beinhalten. Und genau hier kommt Scheer PAS zum Einsatz. Mit Scheer PAS sind die Kunden in der Lage, klassische und dynamischen Funktionen in einem Geschäftsprozess zu integrieren. Das heißt transaktionale Funktionen und KI basierte Funktionen können mit einer einheitlichen Methode und mit einer einheitlichen Plattform designed, deployed und ausgeführt werden. Wir reden hier dann von hybriden KI-Prozessen.
- Wie können Data Spaces, wie Factory X und Manufacturing X, in Kombination mit KI-Agenten zur Entstehung neuer Geschäftsmodelle beitragen?
WJ: In der Frage werden ein Paar Dinge gemischt. Bei Factory X und Manufacturing X geht es unter anderem darum, den unternehmensübergreifenden Datenaustausch auf einer DSGVO konformen und Cloud basierten Dateninfrastruktur durchzuführen. Hierzu muss die Dateninfrastruktur folgende wesentlichen Capabilities beinhalten: Routing, Orchestration, Mapping, Monitoring und Transformation. KI-Agenten sind Softwaresysteme, die in der Lage sind, Aufgaben autonom durch Interaktion mit der Umwelt auszuführen. Geschäftsmodelle beschreiben die Art und Weise, wie Unternehmen am Markt agieren und Geld verdienen. Insofern würde ich sagen, dass die Data Spaces ein Enabler für neue Geschäftsmodelle sind, die auf unternehmensübergreifenden Unternehmensnetzwerken beruhen. KI-Agenten können in einem solchen Modell zur Abwicklung dynamischer Geschäftsprozesse eingesetzt werden. Dazu müssten die KI-Agenten in die Lage versetzt werden, mit den API´s der Data Spaces zu kommunizieren und diese als Datenquelle zu benutzen. Des Weiteren könnte die Integration von KI- Agenten mit den auf den Data Spaces arbeitenden Applikationen verbunden werden, um dynamisch auf unvorhersehbare Geschäftsereignisse zu reagieren.
- Welche Auswirkungen hat der Einsatz von KI-Agenten auf die Flexibilität und den Koordinationsaufwand in den Unternehmens- und Geschäftsprozessen — wo bleibt der Mensch dabei?
WJ: Die KI-Agenten fallen nicht vom Himmel. Wie jede andere Software auch, müssen diese definiert, entwickelt, ausgeführt, überwacht und weiterentwickelt werden. Wir müssen uns bei aller Euphorie immer noch dessen bewusst sein, dass auch KI-Agenten nichts anderes darstellen, als ein Stück Software, die auf einem Computer ausgeführt wird, der nichts anderes macht, als vorgegebene Instruktionen abzuarbeiten. Das allerdings in einer nie für möglich gehaltenen Geschwindigkeit. Gibt es heute Applikationsmanager, so gibt es morgen Agenten Manager. Gibt es heute Applikationsentwickler, so gibt es morgen Agenten Entwickler. Einfach gesprochen kann man sagen, die KI-Agenten lösen die Applikationen ab. Das heißt, der Mensch wird auch weiterhin hier eine ganz entscheidende Rolle spielen. Die Schwierigkeit bei der Entwicklung von KI-Agenten liegt auch nicht so sehr in der technischen Implementierung, sondern viel mehr in der Definition des fachlichen Use Cases. Die Frage also, wo machen die Fähigkeiten von KI-Agenten besonders Sinn? Wo können Sie neue, innovative Geschäftsprozesse vollständig übernehmen? Wo können durch den Einsatz von KI Agenten Geschäftsprozesse definiert werden, die mit traditionellen Technologien überhaupt nicht denkbar sind? All diese Fragen kann (bis heute) nur der Mensch beantworten. Deshalb ist der Begriff „Intelligence“ in diesem Kontext — meiner Meinung nach — etwas unglücklich gewählt. Weil er etwas suggeriert, was die KI Technologie nicht bieten kann. Nämlich menschliches Bewusstsein. Der Begriff Intelligenz umfasst nach meiner Vorstellung auch „Bewusstsein“ oder wie die Amerikaner sagen, „Consciousness“.
- Wie sollten Unternehmen vorgehen, die mit dem Gedanken spielen, ihre Applikationen und Geschäftsprozesse auf agentenbasierte KI umzustellen?
WJ: Zunächst einmal geht es darum, die Unterschiede zwischen Applikationen und KI-Agenten genau zu verstehen. Danach liegt die wesentliche Aufgabe darin, Use Cases bzw. Geschäftsprozesse zu identifizieren, die durch die Umstellung auf KI-Technologien einen höheren Wertbeitrag zum Unternehmenserfolg liefern, als das durch klassische Applikationen der Fall ist. Die Nutzung von KI-Agenten ist kein Selbstzweck. Nicht jede, der derzeit in einem Unternehmen vorhandenen Applikationen ist für eine KI-Transformation geeignet. Hier gilt es einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht von der Euphorie anstecken zu lassen. Der erste ausgewählte Use Case oder Geschäftsprozess sollte auch fehlertolerant sein. Es ist nämlich davon auszugehen, dass die ersten KI-Transformationsprojekte eine hohes Fehlerrisiko besitzen und auch scheitern können. „Versuch und Irrtum“ ist hier der zu wählende Ansatz. Scheitern muss zum Teil der Unternehmenskultur werden und sollte verkraftbar sein. Dann geht es auch um Fragen der zu verwendenden KI-Technologien. Welche LLMs will man verwenden? Setzt man auf Open-Source Modelle oder auf Closed Source Modelle? In welche Abhängigkeit begibt man sich, wenn man bestimmte KI-Technologien auswählt (Lock In Effekt) und wie geht man mit diesen Abhängigkeiten um? Verwendet man eher Low Code KI Plattformen oder eher Pro Code Plattformen? Benutzt man „Out of the box“ Lösungen oder legt man den Schwerpunkt eher auf individuelle Entwicklungen? Es gibt also eine ganze Reihe von Fragen, die man im Vorfeld beantworten muss. Dennoch bin ich der Meinung, dass nichts zu tun, keine Option ist. Alle Unternehmen sind dazu aufgefordert, sich mit den Möglichkeiten der KI Technologie zu beschäftigen und Einsatzszenarien zu identifizieren. Was SaaS Applikationen für die Cloud, bedeuten KI Agenten für KI. Wichtig ist allerdings, dass man sich einen neutralen Blick auf das Thema KI erarbeitet und sich nicht von den Marketingaussagen der großen Hersteller blenden lässt. Heutige KI Technologien haben einerseits ein enormes Potential, andererseits aber auch ernsthafte Limitationen. Deshalb ist es enorm wichtig, Chancen und Risiken abzuwägen und explorativ vorzugehen.
Das Gespräch führte Ralf Keuper