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Deutsches Inge­nieur­we­sen galt lange als Inbe­griff tech­nis­ch­er Exzel­lenz. Doch während die Indus­trie über Overengi­neer­ing disku­tiert, offen­bart sich ein tiefer­liegen­des Prob­lem: Die Unfähigkeit, Par­a­dig­men­wech­sel zu antizip­ieren. Präzi­sion bleibt unverzicht­bar – aber nur, wenn sie adap­tiv wird.


Es entste­ht zuweilen der Ein­druck, Präzi­sion sei ein Aus­lauf­mod­ell. Die deutsche Indus­trie, einst stolz auf ihre Inge­nieurskun­st, scheint in der Pre­mi­um-Falle gefan­gen: zu teuer, zu kom­pliziert, zu langsam für Märk­te, die Quick-and-Dirty-Lösun­gen bevorzu­gen. Der Vor­wurf des Overengi­neer­ing trifft einen wun­den Punkt. Tat­säch­lich haben viele deutsche Her­steller ihre Pro­duk­te der­art verkom­pliziert, dass sie sich selb­st die Inno­va­tion­skraft abschnürten.

Doch wer daraus schließt, Präzi­sion selb­st sei obso­let gewor­den, irrt fun­da­men­tal. Präzi­sion bedeutet nicht zwangsläu­fig Über­maß, son­dern das Ein­hal­ten naturge­set­zlich­er Gren­zen und tech­nis­ch­er Maßstäbe, die für Zuver­läs­sigkeit und Effizienz unab­d­ing­bar sind. In ein­er Welt, die zunehmend von kurzfristiger Effizienz und Funk­tion­s­min­i­mal­is­mus geprägt ist, mag diese Hal­tung anachro­nis­tisch wirken. Sie kön­nte jedoch wieder an Bedeu­tung gewin­nen, wenn nach­haltige und ressourcenscho­nende Tech­nolo­gien im Mit­telpunkt ste­hen. Das Fun­da­ment tech­nis­ch­er Exzel­lenz bleibt ele­men­tar.

Die Frage ist nur: Wie organ­isiert man Präzi­sion unter den Bedin­gun­gen per­ma­nen­ten Wan­dels? Hier kommt das dig­i­tale Mess­we­sen ins Spiel. Die Metrolo­gie entwick­elt sich zum unverzicht­baren Ner­ven­sys­tem mod­ern­er Pro­duk­tion. Inte­gri­erte Messsys­teme ermöglichen Echtzeit-Qual­ität­skon­trolle, ver­net­zte Sen­soren liefern kon­tinuier­lich Dat­en für dig­i­tale Zwill­inge, automa­tisierte Ver­fahren garantieren Prozess­sicher­heit. Im deutschen Inge­nieur­we­sen, wo es oft um enge Tol­er­anzen geht, wird dig­i­tale Messtech­nik als Werkzeug ver­standen, um naturge­set­zliche Gren­zen bess­er einzuhal­ten und Pro­duk­t­in­tegrität zu sich­ern.

Doch damit ist es nicht getan. Das adap­tive Mess­we­sen muss sich in adap­tive Pro­duk­tion­ssys­teme ein­fü­gen – und das stellt das tra­di­tionell eher starre deutsche Denken vor Her­aus­forderun­gen. Flex­i­ble Fer­ti­gungssys­teme müssen sich schnell auf Pro­duk­twech­sel ein­stellen kön­nen. Dynamis­che Pro­duk­tion­s­pla­nung ver­langt Echtzeitop­ti­mierung durch kün­stliche Intel­li­genz. Men­sch-Mas­chine-Kol­lab­o­ra­tion erfordert intu­itive Schnittstellen statt for­maler Proze­duren. Die tech­nis­che Flex­i­bil­ität ver­langt zugle­ich eine kul­turelle: Das method­isch-strin­gente Inge­nieur­denken muss offen­er wer­den für agile, exper­i­mentelle und iter­a­tive Vorge­hensweisen. Ler­nen und schnelle Reak­tion wer­den wichtiger als starre Plan­er­fül­lung.

Hier offen­bart sich ein größeres Muster, das über die Messtech­nik hin­ausweist. Deutsche Forschung und Entwick­lung zeich­net sich tra­di­tionell durch Sys­tem­denken, Gründlichkeit und Inge­nieur­sexzel­lenz aus. Man baut durch­dachte Architek­turen, spez­i­fiziert Schnittstellen, stan­dar­d­isiert Pro­tokolle. Man denkt in Regel­w­erken, Nor­men, langfristig sta­bilen Struk­turen. Das ist eine Stärke – und in bes­timmten Phasen tech­nol­o­gis­ch­er Entwick­lung entschei­dend.

Aber es zeigt auch eine Schwäche: die Schwierigkeit, dis­rup­tive Tech­nolo­giesprünge vorherzuse­hen und anzunehmen, wenn sie aus anderen Par­a­dig­men kom­men. Deep Learn­ing kam nicht aus der deutschen Forschungstra­di­tion. Cloud Com­put­ing wurde von amerikanis­chen Inter­netkonz­er­nen entwick­elt. Large Lan­guage Mod­els ent­standen bei Ope­nAI und Google, nicht bei Siemens oder SAP. Deutsche Forschung konzip­iert Sys­teme, amerikanis­che Tech­nolo­giekonz­erne exper­i­men­tieren mit Dat­en. Wenn sich das Par­a­dig­ma ver­schiebt – von Regeln zu Ler­nen, von Logik zu Sta­tis­tik, von Architek­tur zu Emer­genz – dann gerät der deutsche Ansatz ins Hin­tertr­e­f­fen.

Um dieses Phänomen zu ver­ste­hen, hil­ft ein Blick auf Rein­hart Kosel­lecks Konzept der Zeitschicht­en. Wie geol­o­gis­che For­ma­tio­nen über­lagern sich in Gesellschaft und Wirtschaft ver­schiedene zeitliche Ebe­nen, die mit unter­schiedlichen Geschwindigkeit­en ver­laufen. Es gibt tiefe, langsam sich verän­dernde Struk­turen – kul­turelle Prä­gun­gen, insti­tu­tionelle Logiken, tech­nis­che Tra­di­tio­nen. Darüber lagern sich schnellere Entwick­lungss­chicht­en – Mark­tzyklen, Pro­duk­t­gen­er­a­tio­nen, Unternehmensstrate­gien. Und an der Ober­fläche ereignen sich kurzfristige Dis­rup­tions-Zyklen.

Die deutsche Inge­nieurskul­tur gehört zu den tiefen Zeitschicht­en. Sie reicht weit zurück, ist stark sed­i­men­tiert, verän­dert sich nur langsam. Das Denken in Nor­men und Stan­dards, die Vor­liebe für durch­dachte Architek­turen, die Beto­nung von Gründlichkeit – all das sind Struk­turen, die über Jahrzehnte, teil­weise über ein Jahrhun­dert hin­weg gewach­sen sind. Sie prä­gen, wie Organ­i­sa­tio­nen funk­tion­ieren, wie Forschung organ­isiert wird, welche Fra­gen über­haupt gestellt wer­den.

Tech­nol­o­gis­che Par­a­dig­men­wech­sel dage­gen ereignen sich in immer schnelleren Zyklen. Deep Learn­ing brauchte keine zehn Jahre, um ganze Branchen umzuwälzen. Cloud Com­put­ing ent­stand prak­tisch über Nacht aus der Infra­struk­tur von Ama­zon. Diese schnellen Dis­rup­tions-Zyklen kol­li­dieren mit den tiefen Struk­turen deutsch­er Inge­nieurskul­tur. Während man noch Architek­turen durch­denkt, Stan­dards spez­i­fiziert und Langzeit­stu­di­en durch­führt, hat sich die tech­nol­o­gis­che Ober­fläche bere­its mehrfach ver­schoben.

Doch es geht um mehr als nur unter­schiedliche Geschwindigkeit­en. Friedrich Cramers Konzept des Zeit­baums führt eine weit­ere Dimen­sion ein: die Unter­schei­dung zwis­chen reversibler und irre­versibler Zeit. Reversible Zeit ist die Zeit der Mes­sung, der Präzi­sion, der Wieder­hol­barkeit – die Zeit, in der Nor­men gel­ten, Stan­dards funk­tion­ieren, Prozesse repro­duzier­bar sind. Es ist, wie Cramer mit Bezug auf Aris­tote­les schreibt, eine “Sys­temzeit”, die Bewe­gung beschreibt, aber selb­st keine Ereignisse ken­nt. Die Dig­i­taluhr misst diese Zeit sehr genau. Die deutsche Inge­nieurskul­tur operiert bevorzugt in dieser reversiblen Zeit. Präzi­sion bedeutet ja ger­ade, dass etwas wieder­hol­bar ist, dass es sich auf zeit­lose Prinzip­i­en beruft, dass es der Vergänglichkeit enthoben scheint.

Irre­versible Zeit dage­gen ist die Zeit, in der sich etwas ereignet, das nicht rück­gängig gemacht wer­den kann. Die Zeit der Dis­rup­tion, der Meta­mor­phose, des Par­a­dig­men­wech­sels. Deep Learn­ing ereignete sich – und danach war die Welt der kün­stlichen Intel­li­genz eine andere. Dieser Zeit­typ entzieht sich der Präzi­sion, er lässt sich nicht in Nor­men fassen, nicht stan­dar­d­isieren, nicht durch Gründlichkeit kon­trol­lieren.

Cramers entschei­dende These ist nun, dass bei­de Zeit­for­men nicht als unver­bun­dene Gegen­sätze existieren, son­dern in einem Getriebe zusam­men­hän­gen – im Zeit­baum. Reversible und irre­versible Zeit greifen ineinan­der wie Zah­n­räder. Wer nur in der reversiblen Zeit operiert, in der Welt der Stan­dards und Mes­sun­gen, ver­liert den Anschluss an das Ereignishafte, an die Dis­rup­tion. Wer nur der irre­versiblen Zeit fol­gt, dem per­ma­nen­ten Wan­del, ver­liert jede Sta­bil­ität, jede Ver­lässlichkeit, jede Qual­ität.

Das deutsche Inge­nieur­we­sen krankt daran, dass es das Getriebe nicht mehr syn­chro­nisieren kann. Es ver­sucht, die irre­versible Zeit der Dis­rup­tion in die reversible Zeit der Norm zu zwin­gen. Man will KI stan­dar­d­isieren, bevor man ver­standen hat, wohin sie sich entwick­elt. Man spez­i­fiziert Schnittstellen für Cloud-Sys­teme, während sich die zugrun­deliegende Architek­tur bere­its ver­schiebt. Man denkt in Son­der­forschungs­bere­ichen mit Laufzeit­en von zehn Jahren, während die näch­ste tech­nol­o­gis­che Welle bere­its her­an­rollt.

Die Emanzi­pa­tion­sleis­tung, von der Cramer spricht – die Abkop­pelung von der “ewigen” Zeit, die Auf­gabe von Sicher­heit –, ist dem deutschen Ansatz fremd geblieben. Man klam­mert sich an die reversible Zeit, an die Hoff­nung, durch genü­gend Präzi­sion, genü­gend Stan­dards, genü­gend Architek­turen die Zukun­ft kon­trol­lier­bar zu machen. Doch Kon­trolle über irre­versible Prozesse ist eine Illu­sion. Das Ereig­nis lässt sich nicht normieren.

Das Prob­lem ist nicht, dass die eine Zeit­form bess­er wäre als die andere. Reversible Zeit schafft Sta­bil­ität, Qual­ität, Ver­lässlichkeit. Irre­versible Zeit ermöglicht Ler­nen, Anpas­sung, Inno­va­tion. Das Prob­lem ist die fehlende Ver­mit­tlung im Getriebe des Zeit­baums. Deutsche Forschungsin­sti­tu­tio­nen operieren auss­chließlich in reversibler Zeit, während dis­rup­tive Inno­va­tio­nen im Modus der irre­versiblen Zeit entste­hen. Die konzep­tionellen Grund­la­gen, die man heute legt, wer­den in zehn Jahren Real­ität – aber dann unter völ­lig anderen tech­nol­o­gis­chen Vorze­ichen, von anderen Akteuren, in anderen Kon­tex­ten, weil inzwis­chen irre­versible Ereignisse das Feld neu geord­net haben.

Das ist keine pauschale Kri­tik. Es ist eine Beobach­tung über kom­ple­men­täre Stärken, die sich ide­al ergänzen kön­nten. Tat­säch­lich aber entste­hen oft par­al­lele Wel­ten: Deutsche Forschung entwick­elt Son­der­forschungs­bere­iche in reversibler Zeit, während Sil­i­con Val­ley in irre­versibler Zeit skaliert und exper­i­men­tiert. Die Geschichte ist voll von Beispie­len, wo deutsche Forsch­er konzep­tionelle Grund­la­gen legten, die später in ander­er Form und an anderem Ort Real­ität wur­den – weil andere Akteure das Getriebe zwis­chen bei­den Zeit­for­men beherrscht­en.

Deutsch­land disku­tiert heute über KI-Sou­veränität, europäis­che Cloud-Infra­struk­turen, die Reg­ulierung von KI-Sys­te­men. Man will Stan­dards set­zen, Architek­turen definieren, Gov­er­nance-Struk­turen auf­bauen. Das ist wichtig und notwendig – aber es operiert auss­chließlich in der Logik reversibler Zeit. Die Lek­tion mah­nt zur Demut: Die näch­ste tech­nol­o­gis­che Dis­rup­tion kommt ver­mut­lich wieder als irre­versibles Ereig­nis, das sich nicht vorherse­hen lässt. Vielle­icht Quan­ten­com­put­ing, vielle­icht neue KI-Par­a­dig­men jen­seits von Deep Learn­ing, vielle­icht Tech­nolo­gien, die noch gar nicht existieren.

Die Her­aus­forderung ist nicht, die per­fek­te Architek­tur für die heutige Tech­nolo­gie zu bauen. Die Her­aus­forderung ist, adap­tive Sys­teme zu schaf­fen, die das Getriebe zwis­chen reversibler und irre­versibler Zeit pro­duk­tiv nutzen kön­nen. Sys­teme, die Präzi­sion bewahren, wo sie unverzicht­bar ist – und gle­ichzeit­ig offen sind für das Ereignishafte, für Par­a­dig­men­wech­sel, für irre­versible Meta­mor­pho­sen. Organ­i­sa­tio­nen, die in ver­schiede­nen Zeitschicht­en gle­ichzeit­ig operieren kön­nen: tief ver­wurzelt in Stan­dards und Qual­ität, und zugle­ich exper­i­men­tier­freudig an der Ober­fläche, wo sich Dis­rup­tio­nen ereignen.

Nur so bleibt deutsche Präzi­sion nicht starr, son­dern wird flex­i­bel, wider­stands­fähig und erfol­gskri­tisch in ein­er volatilen Welt. Die eigentliche Präzi­sions­falle ist nicht das Overengi­neer­ing einzel­ner Pro­duk­te. Es ist die Präzi­sion des Denkens selb­st, die sich gegen das Unvorherge­se­hene sper­rt – und die Weigerung, die Gle­ichzeit­igkeit ver­schieden­er Zeit­for­men anzuerken­nen. Die Unfähigkeit, im Zeit­baum zu denken: dort, wo reversible und irre­versible Zeit ineinan­der­greifen, wo Sta­bil­ität und Wan­del kein Wider­spruch sind, son­dern ein pro­duk­tives Span­nungsver­hält­nis. Wo Präzi­sion nicht Kon­trolle bedeutet, son­dern die Fähigkeit, mit dem Unkon­trol­lier­baren umzuge­hen.

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