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Von Ralf Keu­per

Gilbert Simon­dons Schrift Die Exis­ten­zweise tech­nis­ch­er Objek­te ent­fal­tet ihre Rel­e­vanz beson­ders in der heuti­gen, dig­i­tal­isierten Welt, etwa durch Phänomene wie das Smart Home oder das Inter­net der Dinge und neuerd­ings durch die Ver­bre­itung großer Sprach­mod­elle und gen­er­a­tiv­er KI. Simon­don argu­men­tiert, dass tech­nis­che Objek­te durch interne Umverteilung von Funk­tio­nen zu syn­er­getis­chen Ein­heit­en fortschre­it­en, bei denen nicht einzelne Funk­tio­nen, son­dern Funk­tion­s­grup­pen entschei­dend sind. Diese Sichtweise weist Par­al­le­len zu Mul­ti­a­gen­ten­sys­te­men und der Syn­er­getik von Her­mann Hak­en auf1Die Exis­ten­zweise tech­nis­ch­er Objek­te (Gilbert Simon­don).

Simon­don schreibt:

Die Spezial­isierung jed­er Struk­tur ist die Spezial­isierung ein­er pos­i­tiv­en syn­thetisch-funk­tionalen Ein­heit, die von uner­wün­scht­en Sekundär­ef­fek­ten befre­it ist, welche die Funk­tion­sweise abschwächen; das tech­nis­che Objekt schre­it­et durch die interne Umverteilung der Funk­tio­nen auf kom­pat­i­ble Ein­heit­en voran, die an die Stelle der Zufäl­ligkeit oder des Antag­o­nis­mus der ursprünglichen Verteilung treten; die Spezial­isierung erfol­gt nicht >Funk­tion für Funk­tion<, son­dern >Syn­ergie für Syn­ergie<; es ist die syn­er­getis­che Funk­tion­s­gruppe und nicht die einzelne Funk­tion, die das wirk­liche Sub-Ensem­ble im tech­nis­chen Objekt bildet.

Zum Begriff der Infor­ma­tion beschreibt Simon­don sie als Zwis­chen­zu­s­tand zwis­chen Zufäl­ligkeit und Regelmäßigkeit. Infor­ma­tion entste­ht durch die Reduk­tion von Unbes­timmtheit inner­halb bes­timmter Gren­zen, wobei ein Spiel­raum der Unbes­timmtheit erhal­ten bleiben muss, um neue Bedeu­tung zu gener­ieren.

In Simon­dons Worten:

Die Infor­ma­tion ist wie ein Zufallsereig­nis und doch unter­schei­det sie sich von ihm. Eine absolute Stereo­typ­ie, die jede Neuigkeit auss­chließt, schließt auch jede Infor­ma­tion aus. Um die Infor­ma­tion von Geräusch zu unter­schei­den, stützt man sich gle­ich­wohl auf das Merk­mal, dass Unbes­timmtheit auf bes­timmte Gren­zen reduzieren lässt.  … ; damit die Infor­ma­tion­snatur des Sig­nals fortbeste­ht, muss ein bes­timmter Unbes­timmtheitsspiel­raum fortbeste­hen. Die Vorherse­hbarkeit ist ein Grund, der diese zusät­zliche Präzisierung empfängt und der sie in ein­er sehr großen Zahl von Fällen schon im Voraus vom reinen Zufall unter­schei­det, indem er sie teil­weise prä­formiert. Die Infor­ma­tion liegt somit auf halbem Weg zwis­chen reinem Zufall und Regelmäßigkeit.

Der Men­sch wird als Ver­mit­tler zwis­chen Maschi­nen gese­hen, da diese keine eigen­ständi­ge Infor­ma­tion erzeu­gen, son­dern lediglich For­men mod­i­fizieren. Nur ein Lebe­we­sen kann die Funk­tion­sweisen von Maschi­nen inter­pretieren und in neue Kon­textfor­men über­set­zen.

Es erscheint also als die Auf­gabe des men­schlichen Indi­vidu­ums, die in den Maschi­nen ein­ge­lagerten For­men in Infor­ma­tio­nen zu kon­vertieren; die Oper­a­tion der Maschi­nen lässt keine Infor­ma­tion entste­hen, son­dern sie ist lediglich eine Mon­tage und Mod­i­fika­tion von For­men; das Funk­tion­ieren ein­er Mas­chine hat keinen Sinn, es kann nicht zu wirk­lichen Infor­ma­tion­ssig­nalen für eine andere Mas­chine führen; es bedarf eines Lebe­we­sens als Medi­a­teur, um einen Funk­tion­s­ablauf in Begrif­f­en der Infor­ma­tion zu inter­pretieren und ihn wieder in For­men für eine andere Mas­chine zu kon­vertieren.

Die Idee eines vol­lkomme­nen Auto­mat­en, der ohne Unbes­timmtheitsspiel­raum Infor­ma­tio­nen ver­ar­beit­et, hält Simon­don für wider­sprüch­lich, da völ­lige Vorherse­hbarkeit keine Bedeu­tung oder Infor­ma­tions­dy­namik mehr zulässt.

Die Vorstel­lung eines vol­lkomme­nen Auto­mat­en ist eine Vorstel­lung, die aus einem Über­gang zur Gren­ze gewon­nen ist und sie birgt in sich etwas Wider­sprüch­lich­es: Der Automat wäre eine so vol­lkommene Mas­chine, dass der Unbes­timmtheitsspiel­raum für ihr Funk­tion­ieren gle­ich null wäre, die aber den­noch Infor­ma­tio­nen emp­fan­gen, inter­pretieren oder aussenden kön­nen. Wenn aber der Unbes­timmtheitsspiel­raum für ihr Funk­tion­ieren gle­ich null ist, gibt es keine Möglichkeit zur Vari­a­tion mehr; das Funk­tion­ieren wieder­holt sich unbe­gren­zt in iden­tis­ch­er Form und fol­glich enthält diese Iter­a­tion kein­er­lei Bedeu­tung.

Ein­schätzung 

Einige der Aus­sagen Simon­dons kön­nen als wider­legt, zumin­d­est als rel­a­tiviert ange­se­hen wer­den. Denn, dass die Oper­a­tion der Maschi­nen keine Infor­ma­tion entste­hen lässt, son­dern es sich dabei lediglich um eine Mon­tage und Mod­i­fika­tion von For­men han­delt und fol­glich das Funk­tion­ieren ein­er Mas­chine keinen Sinn hat, da es nicht zu wirk­lichen Infor­ma­tion­ssig­nalen für eine andere Mas­chine führen kann, lässt sich heute so nicht mehr aufrechter­hal­ten. Mul­ti­a­gen­ten­sys­teme und agen­ten­basierte Work­flows, die bei der Erledi­gung von Auf­gaben und der Reak­tion auf nicht pro­gram­mier­bare Ereignisse über ver­schiedene Abteilun­gen und sog­ar über Unternehmensgren­zen bei der Erledi­gung von Auf­gaben hin­weg kom­mu­nizieren und inter­agieren kön­nen, erzeu­gen sehr wohl Infor­ma­tion­ssig­nale für andere Maschi­nen. Sie agieren nicht mehr nur vorherse­hbar, regel­basiert.

Was sagt Per­plex­i­ty dazu?

Auf die Frage an Per­splex­i­ty, inwieweit sich die Textpas­sagen von Simon­don auf Große Sprach­mod­elle, KI-Agen­ten und Mul­ti­a­gen­ten­sys­teme anwen­den lassen, kam zur Antwort:

Gilbert Simon­dons Philoso­phie der Tech­nik bietet rel­e­vante Per­spek­tiv­en auf die Entwick­lung und Funk­tion­sweise von KI-Agen­ten, großen Sprach­mod­ellen (LLMs) und Mul­ti­a­gen­ten­sys­te­men. Seine Konzepte der Konkretisierung, Syn­ergie und Infor­ma­tion lassen sich wie fol­gt anwen­den:

Konkretisierung und syn­er­getis­che Spezial­isierung

Simon­don beschreibt tech­nis­che Objek­te als Sys­teme, die durch interne Umverteilung von Funk­tio­nen fortschre­it­en, um „uner­wün­schte Sekundär­ef­fek­te“ zu eli­m­inieren und Kom­pat­i­bil­ität zwis­chen Ein­heit­en herzustellen. Dies geschieht nicht durch isolierte Funk­tion­sop­ti­mierung, son­dern durch Syn­ergiebil­dung .

  • KI-Agen­ten und LLMs: Mod­erne Sprach­mod­elle inte­gri­eren beispiel­sweise Textgener­ierung, Logik und Kon­textver­ar­beitung in eine einzige Architek­tur (z. B. Trans­former). Diese „Plu­ri­funk­tion­al­ität“ – etwa, dass Aufmerk­samkeitsmech­a­nis­men sowohl seman­tis­che Beziehun­gen als auch Syn­tax regeln – entspricht Simon­dons Idee der syn­er­getis­chen Sub-Ensem­bles .
  • Mul­ti­a­gen­ten­sys­teme: Hier entste­ht Fortschritt durch die Koor­di­na­tion von Agen­ten, die sich gegen­seit­ig sta­bil­isieren („interne Res­o­nanz“). Ein Beispiel sind Schwar­mal­go­rith­men, bei denen die kollek­tive Intel­li­genz nicht auf einzel­nen Agen­ten, son­dern auf deren ver­net­zten Inter­ak­tio­nen beruht .

Infor­ma­tion zwis­chen Zufall und Regelmäßigkeit

Simon­don definiert Infor­ma­tion als ein Phänomen, das wed­er rein zufäl­lig noch abso­lut vorherse­hbar ist, son­dern einen „Unbes­timmtheitsspiel­raum“ benötigt .

  • LLMs: Sprach­mod­elle gener­ieren Text durch Abwä­gung von Vorher­sag­barkeit (Train­ing auf Sprach­mustern) und kreativ­er Vari­a­tion (z. B. Sam­pling mit Tem­per­atur­pa­ra­me­tern). Dieser Bal­anceakt spiegelt Simon­dons Beschrei­bung wider, dass Infor­ma­tion „auf halbem Weg zwis­chen reinem Zufall und Regelmäßigkeit“ liegt .
  • KI-Agen­ten: Rein­force­ment Learn­ing basiert auf der Explo­ration von Hand­lung­sop­tio­nen (Zufall) und Exploita­tion bekan­nter Strate­gien (Regelmäßigkeit). Nur durch diese Span­nung kann der Agent adap­tiv ler­nen .

Men­schliche Ver­mit­tlung und Form-Infor­ma­tion-Trans­for­ma­tion

Simon­don betont, dass Maschi­nen lediglich For­men ver­ar­beit­en, während Lebe­we­sen diese in Infor­ma­tion über­set­zen .

  • LLMs: Sprach­mod­elle berech­nen sta­tis­tis­che Kor­re­la­tio­nen (For­men), aber die Inter­pre­ta­tion ihrer Out­puts – z. B. die Unter­schei­dung zwis­chen Ironie und Lit­er­al­ität – erfordert men­schliche Kon­tex­tu­al­isierung. Ein Beispiel ist die Fehlk­las­si­fizierung von Tex­turen in Bildern durch KI, die men­schliche Betra­chter kor­rigieren .
  • Mul­ti­a­gen­ten­sys­teme: Autonome Sys­teme wie autonome Fahrzeuge gener­ieren Daten­ströme (For­men), die erst durch men­schliche Analyse in verkehrsrel­e­vante Infor­ma­tion (z. B. Gefahren­erken­nung) trans­formiert wer­den .

Das Para­dox des per­fek­ten Auto­mat­en

Simon­don kri­tisiert die Vorstel­lung eines „vol­lkomme­nen Auto­mat­en“ ohne Unbes­timmtheit: Ohne Spiel­raum für Vari­a­tion wird Iter­a­tion bedeu­tungs­los .

  • Gen­er­a­tive KI: Ein LLM mit fes­tem Tem­per­atur­pa­ra­me­ter (keine Zufall­skom­po­nente) würde repet­i­tive, nichtssagende Texte pro­duzieren. Erst die Ein­führung von Unsicher­heit (z. B. Top-k-Sam­pling) ermöglicht kreative Vielfalt .
  • Autonome Sys­teme: Robot­er in star­ren Fab­rikumge­bun­gen („geschlossene“ Auto­mat­en) scheit­ern in unvorherge­se­henen Sit­u­a­tio­nen, während adap­tive Sys­teme (z. B. Cobots) durch sen­sorische Feed­backschleifen „metasta­bil“ reagieren .

Faz­it

Simon­dons Philoso­phie zeigt, dass KI-Sys­teme nicht als isolierte Werkzeuge, son­dern als ko-evo­lu­tive tech­nis­che Objek­te ver­standen wer­den müssen. Ihre Entwick­lung fol­gt einem Prozess der Konkretisierung (Inte­gra­tion von Funk­tio­nen), ihr Betrieb erfordert syn­er­getis­che Ver­net­zung, und ihre Bedeu­tung entste­ht erst durch men­schliche Ver­mit­tlung. Der „Unbes­timmtheitsspiel­raum“ ist dabei kein Defiz­it, son­dern Voraus­set­zung für infor­ma­torische Rel­e­vanz – eine Erken­nt­nis, die ger­ade für die Ethik der KI entschei­dend ist .

Von Per­plex­i­ty genutzte Quellen (Auszug)

Notes on Gilbert Simondon’s “On the Mode of Exis­tence of Tech­ni­cal Objects” and Arti­fi­cial Intel­li­gence

Gilbert Simon­don, “philoso­pher of infor­ma­tion”?

The Notion of infor­ma­tion in ear­ly cyber­net­ics and in Gilbert Simondon’s phi­los­o­phy 

On the Mode of Exis­tence of Tech­ni­cal Objects by Gilbert Simon­don

Hier noch ein weit­eres Zitat von Simon­don, das auf die enge Beziehung tech­nis­ch­er Objek­te zu ihrer Umwelt, wozu natür­lich auch wir Men­schen gehören, einge­ht.

Der Men­sch ist dazu in der Lage, die Rela­tion zwis­chen dem Lebe­we­sen, das er selb­st ist, und der Mas­chine, die er her­stellt, zu übernehmen; die tech­nis­che Oper­a­tion erfordert ein Leben, das tech­nisch und natür­lich ist. Das tech­nis­che Leben beste­ht aber nicht darin, Maschi­nen zu lenken, son­dern auf der gle­ichen Ebene wie diese als das Wesen zu existieren, das die Rela­tion zwis­chen ihnen übern­immt, indem es gle­ichzeit­ig oder nacheinan­der an mehrere Maschi­nen gekop­pelt wer­den kann.

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