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Mil­lio­nen von Men­schen kön­nten in den kom­menden Jahren nicht nur ihren Job ver­lieren, son­dern ihre gesamte Iden­tität. Was passiert mit ein­er Gesellschaft, in der Arbeit als Grundpfeil­er des Selb­stver­ständ­niss­es weg­bricht? Ein Essay über die psy­chol­o­gis­chen Ver­wüs­tun­gen ein­er tech­nol­o­gis­chen Rev­o­lu­tion – und den Weg zu ein­er neuen Form men­schlich­er Sinns­tiftung.


Es ist ein Dien­stag­mor­gen im Jahr 2030. Sarah, seit fün­fzehn Jahren Steuer­ber­a­terin, star­rt auf ihren Bild­schirm. Die KI-Soft­ware ihres Büros hat ger­ade in zwei Stun­den das erledigt, wofür sie früher eine ganze Woche brauchte – und das mit ein­er Präzi­sion, die ihre jahre­lange Erfahrung in den Schat­ten stellt. Zum ersten Mal in ihrem Beruf­sleben fragt sie sich nicht, wie sie ihre Arbeit bewälti­gen soll, son­dern ob sie über­haupt noch gebraucht wird.

Sarah ist kein Einzelfall. Sie ist Teil ein­er Gen­er­a­tion, die am eige­nen Leib erfährt, was es bedeutet, wenn eine tech­nol­o­gis­che Rev­o­lu­tion nicht nur Arbeit­splätze ver­nichtet, son­dern ganze Iden­titäten aus­löscht.

Die Geschwindigkeit der Zer­störung

Die kog­ni­tive Rev­o­lu­tion fol­gt einem anderen Muster als ihre Vorgänger. Während frühere Automa­tisierungswellen primär kör­per­liche Arbeit erset­zten – die Dampf­mas­chine ver­drängte Pfer­dekutschen, Fließbän­der erset­zten Handw­erk­er –, greift Kün­stliche Intel­li­genz nun in das Herz kog­ni­tiv­er Tätigkeit­en ein. Von der Buch­hal­tung über Rechts­ber­atung bis hin zu kreativ­en Berufen: Kein Bere­ich des Denkens scheint mehr sich­er.

Doch anders als bei früheren Umbrüchen geschieht dies mit ein­er bish­er ungekan­nten Geschwindigkeit. KI-Sys­teme ler­nen expo­nen­tiell, während Men­schen lin­ear denken. Was heute noch undenkbar erscheint, kann mor­gen bere­its Real­ität sein. Ganze Indus­triezweige kön­nten bin­nen weniger Jahre trans­formiert wer­den – ein Tem­po, das die natür­lichen Anpas­sung­sprozesse von Gesellschaften und Indi­viduen über­fordert.

Das unsicht­bare Gerüst bricht zusam­men

Die wahre Trag­weite dieser Umwälzung liegt jedoch tiefer als die bloße Ver­nich­tung von Arbeit­splätzen. Arbeit ist das unsicht­bare Gerüst, das unser gesellschaftlich­es Zusam­men­leben trägt. Sie ist weit mehr als nur eine Einkom­men­squelle – sie stiftet Iden­tität, ver­lei­ht sozialen Sta­tus und gibt dem Leben einen Sinn.

Der Recht­san­walt definiert sich nicht allein über sein Gehalt, son­dern über seinen Beitrag zur Gerechtigkeit. Die Lehrerin schöpft ihre Iden­tität aus der Weit­er­gabe von Wis­sen. Der Architekt find­et Erfül­lung darin, Räume zu gestal­ten, die Men­schen bewe­gen. Der Handw­erk­er empfind­et Stolz über die Qual­ität seines Schaf­fens. Wenn diese Rollen weg­fall­en, bricht mehr zusam­men als nur die finanzielle Exis­tenz.

Unsere gesamte Gesellschaft­sor­d­nung basiert auf der impliziten Annahme, dass Men­schen durch ihre Arbeit Wert schaf­fen und dadurch ihren Platz in der Gemein­schaft find­en. Bei Begeg­nun­gen stellen wir uns vor: “Ich bin Arzt”, “Ich bin Inge­nieurin”, “Ich bin Jour­nal­ist”. Diese schein­bar harm­losen Worte offen­baren eine fun­da­men­tale Wahrheit: Wir sind, was wir arbeit­en.

Die Leere der Bedeu­tungslosigkeit

Was geschieht, wenn diese Antworten plöt­zlich bedeu­tungs­los wer­den? Wenn der soziale Sta­tus, der jahrzehn­te­lang durch beru­fliche Leis­tung erwor­ben wurde, sich ein­fach auflöst? Wenn ganze Lebensen­twürfe obso­let wer­den und mit ihnen das Gefühl, gebraucht zu wer­den und einen Zweck zu erfüllen?

Die Anze­ichen sind bere­its heute sicht­bar. Stu­di­en zeigen, dass län­gere Arbeit­slosigkeit nicht nur zu finanziellen Nöten führt, son­dern zu tief­greifend­en psy­chis­chen Krisen. Depres­sio­nen, Angstzustände und ein fun­da­men­taler Ver­lust des Selb­st­wert­ge­fühls sind die Folge. Men­schen, die ihr ganzes Leben lang stolz auf ihre Exper­tise waren, fühlen sich plöt­zlich wert­los und über­flüs­sig.

Doch was wir in der kog­ni­tiv­en Rev­o­lu­tion erleben kön­nten, geht weit über indi­vidu­elle Arbeit­slosigkeit hin­aus. Wenn ganze Beruf­s­grup­pen gle­ichzeit­ig betrof­fen sind, entste­ht ein kollek­tives Trau­ma. Es ist der Unter­schied zwis­chen einem einzel­nen Baum, der im Sturm fällt, und einem ganzen Wald, der gerodet wird.

Doch vielle­icht liegt hier auch ein Denk­fehler, der uns tiefer gefan­gen hält, als wir ahnen. Han­nah Arendt unter­schied in ihrer Vita acti­va zwis­chen Arbeit­en, Her­stellen und Han­deln. Arbeit­en dient dem Über­leben, Her­stellen schafft bleibende Werke – doch erst im Han­deln, im gemein­samen Sinns­tiften und Sprechen in der Öffentlichkeit, offen­bart sich das eigentlich Men­schliche. Wenn nun Maschi­nen das Arbeit­en und Her­stellen bess­er kön­nen, bricht nur dann eine Katas­tro­phe aus, wenn wir vergessen, dass unsere eigentliche Würde im Han­deln liegt. Nicht im Abar­beit­en von Rou­ti­nen, son­dern im gemein­samen Schaf­fen von Bedeu­tung, im Gespräch, im Stre­it, in der poli­tis­chen Gestal­tung unser­er Welt.

Das Gift in den Fam­i­lien

Die Wun­den reichen tief in die Fam­i­lien hinein. Väter und Müt­ter, die einst stolz von ihrer Arbeit erzählten, ver­s­tum­men am Abend­brot­tisch. Kinder ver­lieren ihre Vor­bilder, weil die Exper­tise ihrer Eltern plöt­zlich wert­los gewor­den ist. Wie soll ein Vater seinem Sohn erk­lären, dass Fleiß und Bil­dung der Schlüs­sel zum Erfolg sind, wenn seine eigene jahrzehn­te­lange Erfahrung von ein­er Mas­chine in Stun­den übertrof­fen wird?

Die tra­di­tionellen Nar­ra­tive des gesellschaftlichen Auf­stiegs – “Lerne einen Beruf, arbeite hart, und du wirst erfol­gre­ich sein” – zer­brechen vor den Augen ein­er ganzen Gen­er­a­tion. Was bleibt, ist eine Ori­en­tierungslosigkeit, die sich nicht durch neue Stel­lenauss­chrei­bun­gen beheben lässt.

Die Zeit als Feind

Beson­ders per­fide ist die zeitliche Kom­pres­sion dieses Wan­dels. Während Men­schen in früheren tech­nol­o­gis­chen Rev­o­lu­tio­nen Jahre oder gar Jahrzehnte Zeit hat­ten, sich anzu­passen, neue Fähigkeit­en zu erler­nen und alter­na­tive Lebensen­twürfe zu entwick­eln, rast die kog­ni­tive Rev­o­lu­tion mit ein­er Geschwindigkeit dahin, die men­schliche Anpas­sungs­fähigkeit über­fordert.

Ein 50-jähriger Buch­hal­ter kann nicht ein­fach zum Pro­gram­mier­er umgeschult wer­den – nicht nur, weil ihm die tech­nis­chen Fähigkeit­en fehlen, son­dern weil seine gesamte Iden­tität, sein sozialer Sta­tus und sein Selb­stver­ständ­nis über Jahrzehnte mit seinem Beruf verwach­sen sind. Die Vorstel­lung, bei null anz­u­fan­gen, ist nicht nur prak­tisch schwierig, son­dern psy­chol­o­gisch ver­heerend.

Die Ko-Evo­lu­tion von Men­sch und Mas­chine

Doch es gibt auch einen anderen Weg – einen, den der franzö­sis­che Philosoph Gilbert Simon­don bere­its in den 1950er Jahren vor­weg­nahm. Seine Vision: Tech­nis­che Objek­te existieren nicht isoliert, son­dern entwick­eln sich ko-evo­lu­tiv mit dem Men­schen. KI-Sys­teme durch­laufen dabei einen Prozess der “Konkretisierung” – sie inte­gri­eren immer mehr Funk­tio­nen und wer­den kom­plex­er. Doch ihre wahre Bedeu­tung entste­ht erst durch men­schliche Ver­mit­tlung.

Was bedeutet das konkret? Eine Welt ohne tra­di­tionelle Erwerb­sar­beit ist dank KI dur­chaus vorstell­bar – aber sie muss nicht zwangsläu­fig eine Welt ohne men­schliche Sinns­tiftung sein. Men­schen kön­nten sich entschei­den, weit­er zu arbeit­en, allerd­ings nicht mehr gegen Bezahlung, son­dern um Stolz und Freude zu empfind­en. Die KI würde dann nicht als Konkur­rentin auftreten, son­dern als Part­ner­in – ein Sys­tem, das men­schliche Kreativ­ität befre­it, statt sie zu erset­zen.

In dieser neuen Arbeitswelt übern­immt der Men­sch andere, vielle­icht sog­ar wichtigere Auf­gaben. Er wird zum Ver­mit­tler zwis­chen ver­schiede­nen tech­nis­chen Sys­te­men, zum Inter­pre­ten ihrer Out­puts, zum Schöpfer neuer Verbindun­gen. Was Simon­don den “Unbes­timmtheitsspiel­raum” nan­nte – jene Bere­iche, wo Maschi­nen unvoll­ständig oder mehrdeutig bleiben – wird zur eigentlichen Domäne men­schlich­er Tätigkeit.

Die Würde als unan­tast­bare Gren­ze

Diese Vision grün­det auf ein­er fun­da­men­tal­en Erken­nt­nis: Die eigentliche Gren­ze, die auch die ambi­tion­iertesten KI-Pro­jek­te zu akzep­tieren haben, ist die men­schliche Würde. Was macht diese Würde aus? Sie entspringt unser­er Ver­let­zlichkeit, unser­er Sterblichkeit, unser­er Fähigkeit zur Unsicher­heit und zum Zweifel. Wir wer­den geboren in Unwis­sen, leben in Angst vor dem Tod und müssen den­noch täglich die Wahl zwis­chen Gut und Böse tre­f­fen. Diese zutief­st men­schliche Erfahrung ver­lei­ht uns unsere Würde.

KI-Sys­teme, so intel­li­gent sie auch wer­den mögen, besitzen diese Würde nicht. Sie wer­den nicht geboren, sie ster­ben nicht, ken­nen wed­er Zweifel noch Angst. Sie kön­nen Gefüh­le aus­drück­en oder nachah­men, soll­ten jedoch wie lit­er­arische Fig­uren behan­delt wer­den – faszinierend, vielle­icht sog­ar bewe­gend, aber ohne die exis­ten­zielle Tiefe men­schlich­er Erfahrung.

Jen­seits der Erwerb­sar­beit: Eine neue Def­i­n­i­tion des Men­schen

Die kog­ni­tive Rev­o­lu­tion zwingt uns zu ein­er grundle­gen­den Neude­f­i­n­i­tion dessen, was es bedeutet, Men­sch zu sein. Wenn Maschi­nen alle Auf­gaben übernehmen kön­nen, die wir heute als “Arbeit” beze­ich­nen, müssen wir ler­nen, unseren Wert nicht mehr über Pro­duk­tiv­ität zu definieren, son­dern über unsere einzi­gar­tige Fähigkeit zu fühlen, zu zweifeln, zu hof­fen und moralis­che Entschei­dun­gen zu tre­f­fen.

Dies erfordert neue Sys­teme der Verteilung, Verbindung, Beteili­gung und Bil­dung. Eine Gesellschaft, die nicht mehr auf Lohnar­beit basiert, muss andere For­men der Teil­habe und des Zusam­men­halts entwick­eln. Men­schen brauchen Gemein­schaft, Anerken­nung und das Gefühl, gebraucht zu wer­den – auch wenn ihre Arbeit nicht mehr ökonomisch mess­bar ist.

An diesem Punkt wird auch Erich Fromm aktuell, der die mod­erne Gesellschaft für ihre Fix­ierung auf das Haben kri­tisierte: „Ich habe einen Job, ich habe einen Sta­tus, ich habe Sicher­heit.“ Doch sobald die Maschi­nen diese Sicher­heit­en übernehmen, bleibt vom Haben nichts übrig. Fromm sah eine Alter­na­tive: den Modus des Seins. Ein Leben, das nicht durch Besitz oder Titel bes­timmt wird, son­dern durch die Fähigkeit zu lieben, zu denken, zu erschaf­fen. Vielle­icht zwingt uns die kog­ni­tive Rev­o­lu­tion genau zu diesem Wech­sel – weg von ein­er Kul­tur des Habens, hin zu ein­er Kul­tur des Seins. Eine Gesellschaft, die nicht mehr fragt: „Was hast du erre­icht?“, son­dern: „Wie bist du als Men­sch?“.

Men­schen kön­nten dann endlich das tun, was sie wirk­lich erfüllt: nicht mehr nur Dat­en ver­ar­beit­en oder Rou­ti­nen abar­beit­en, son­dern kreative Syn­the­sen schaf­fen, zwis­chen Wel­ten ver­mit­teln, neue Bedeu­tun­gen stiften. Die Arbeit würde zu dem wer­den, was sie ursprünglich war: ein Aus­druck men­schlich­er Schöpfer­kraft und sozialer Ver­bun­den­heit.

Ein Moment der Entschei­dung

Die kog­ni­tive Rev­o­lu­tion wird kom­men – daran führt kein Weg vor­bei. Doch ob sie zu ein­er Zeit der exis­ten­ziellen Befreiung oder zu einem Zeital­ter der Krise wird, hängt davon ab, ob wir rechtzeit­ig ler­nen, Men­schen­würde und Sinn jen­seits der tra­di­tionellen Erwerb­sar­beit zu ver­ankern. Die Frage ist nicht, ob die Maschi­nen unsere Jobs übernehmen wer­den, son­dern ob wir als Men­schen stark genug sind, unsere wahre Bes­tim­mung als Ver­mit­tler, Schöpfer und Sinns­tifter zu find­en.


Quellen / Weit­ere Infor­ma­tio­nen:

KI-Gen­e­sis — Der Beginn eines neuen Zeital­ters

Die Anwend­barkeit von Simon­dons Tech­nikphiloso­phie auf KI-Agen­ten, Sprach­mod­elle und Mul­ti­a­gen­ten­sys­teme

Cog­ni­tive era real­i­ty check: Why opti­mism must be tem­pered with his­to­ry

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