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Ein Essay über die Metamorphosen des Spielerischen
Das Spiel lässt sich nicht verneinen. Diese radikale Erkenntnis Johan Huizingas1Homo Ludens: Der Ursprung der Kultur im Spiel durchzieht wie ein roter Faden die Diskurse über eines der rätselhaftesten Phänomene unserer Existenz. Während wir nahezu alles abstrakte leugnen können – Recht, Schönheit, Wahrheit, Güte, ja sogar den Ernst –, entzieht sich das Spiel hartnäckig jeder Verneinung. Es ist da, unumstößlich präsent in Tier- und Menschenwelt gleichermaßen, und seine Realität erschließt sich jedem denkenden Wesen unmittelbar, selbst wenn dessen Sprache kein Wort dafür besitzen sollte.
Diese Unbezweifelbarkeit des Spiels verweist auf etwas Fundamentales: Das Spiel ist nicht Stoff, es durchbricht bereits in der Tierwelt die Schranken des physisch Existenten. Von einer deterministisch gedachten Welt reiner Kraftwirkungen her betrachtet, erscheint es als etwas völlig Überflüssiges – ein superadundans, wie der Kulturhistoriker Johan Huizinga es nennt. Erst durch das Einströmen des Geistes, der die absolute Determiniertheit aufhebt, wird das Vorhandensein des Spiels denkbar und begreiflich. Die Tiere können spielen, also sind sie bereits mehr als mechanische Dinge. Wir spielen und wissen, dass wir spielen – also sind wir mehr als bloß vernünftige Wesen, denn das Spiel ist unvernünftig.
Die Ordnung des Spiels
Paradoxerweise schafft das scheinbar unvernünftige Spiel jedoch seine eigene, unbedingte Ordnung. Innerhalb des Spielplatzes herrscht ein Gesetz, das strenger ist als jede äußere Regel: Die geringste Abweichung verdirbt das Spiel, nimmt ihm seinen Charakter und macht es wertlos. In die unvollkommene Welt und das verworrene Leben bringt das Spiel eine zeitweilige, begrenzte Vollkommenheit. Diese innige Verknüpfung mit dem Begriff der Ordnung erklärt vielleicht, warum das Spiel zu so großem Teil im ästhetischen Gebiet zu liegen scheint.
Die Sprache des Spiels ist die Sprache der Schönheit: Spannung, Gleichgewicht, Auswägen, Ablösung, Kontrast, Variation, Bindung und Lösung. Das Spiel bindet und löst zugleich, es fesselt und bannt – das heißt, es bezaubert. Es ist erfüllt von den beiden edelsten Eigenschaften, die der Mensch wahrzunehmen vermag: Rhythmus und Harmonie. Hier offenbart sich eine tiefere Wahrheit: Das Spiel tendiert zum Schönen, nicht aus Zufall, sondern aus seinem Wesen heraus, das auf die Schaffung geordneter Formen drängt.
Das Spiel der Evolution
Doch moderne Naturwissenschaft hat den Spielbegriff weit über Huizingas anthropozentrische Deutung hinausgetrieben. Manfred Eigen und Ruth Winkler erkennen im Spiel das Naturphänomen schlechthin2Das Spiel. Wie der Zufall die Naturgesetze steuert, das in seiner Dichotomie von Zufall und Notwendigkeit allem Geschehen zugrunde liegt. Ihre molekulare Theorie der Evolution zeigt: Zufall und Regel sind die Elemente des Spiels. Einst von Elementarteilchen, Atomen und Molekülen begonnen, wird es nun von unseren Gehirnzellen fortgeführt.
Es ist nicht der Mensch, der das Spiel erfand – wohl aber ist es das Spiel und nur das Spiel, das den Menschen vollständig macht. Entstammen nicht alle unsere Fähigkeiten dem Spiel? Zunächst dem Spiel der Muskeln und Gliedmaßen: Aus ziellosem Greifen und Strampeln wird präzise korrelierter Bewegungsablauf. Sodann dem Spiel der Sinne: Aus spielerischer Neugier wird tiefgreifendes Wissen, aus dem Spiel mit Farben, Formen und Klängen unvergängliches Kunstwerk.
Konrad Lorenz führt diesen Gedanken weiter: Die mannigfachen Untersysteme des Könnens und Erkennens erlangen im Menschen eine Selbständigkeit, die sie bei keinem anderen Lebewesen besitzen. Sie werden begrifflich fassbar, und der Mensch beginnt mit ihnen zu spielen. Schon bei der Herstellung einfachster zweckdienlicher Gegenstände können Menschen primitivster Kulturstufen nicht umhin, Schönes zu schaffen3Das Wirkungsgefüge der Natur .
Das kritische Spiel
Theodor W. Adorno durchbricht jedoch diese harmonische Betrachtung mit seinem kritischen Einwand: Das Spiel ist nicht die reine Freiheit, als die es sich präsentiert. Es bleibt ein „Nachbild unfreier Arbeit”, von äußeren Zwängen beeinflusst und im Schatten von Kapital und gesellschaftlicher Determination gefangen. Adornos Kritik an der „Hermetik des Spiels” bei Huizinga zielt auf eine schmerzhafte Wahrheit: Die scheinbare Autonomie des Spiels verdeckt dessen widersprüchliche Verstrickung mit gesellschaftlichen Bedingungen.
Für Adorno müsste das Spiel seines eigenen Grauens gewahr werden – die Ambivalenz zwischen Freiheit und Zwang, Lust und Notwendigkeit anerkennen. Diese dialektische Sicht öffnet den Blick für die Komplexität des Phänomens: Das Spiel ist weder reine Befreiung noch bloße Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern ein widersprüchliches Feld, in dem sich beide Momente verschränken.
Das Spiel der Synapsen
Am Ende steht Friedrich Cramers poetische Vision vom „Spiel der Synapsen“4Das Spiel der Synapsen – jener unsichtbaren Komplexität des Netzwerks, dem feinen Spiel der Synapsen, der unnachahmlichen Ableitung modulierter Nervenströme. Hier wird das Spiel zur Metapher für das Allerfeinste und Verborgenste: unsere Phantasie, die in den neuronalen Verschaltungen ihre materielle Grundlage findet, ohne darin aufzugehen.
So schließt sich der Kreis: Vom kosmischen Spiel der Moleküle über die kulturstiftende Kraft des menschlichen Spiels bis hin zu den synaptischen Spielen unseres Bewusstseins – überall waltet dasselbe Prinzip der kreativen Kombination, der Integration bereits existenter Elemente zu neuen Einheiten mit emergenten Eigenschaften.
Das Spiel erweist sich als jenes universelle Prinzip, das Neues entstehen lässt durch die unvorhersehbare, aber regelgeleitete Verbindung von Bekanntem.
Vielleicht liegt hier der tiefste Sinn von Huizingas Intuition: Das Spiel lässt sich nicht verneinen, weil es das Prinzip allen Werdens, aller Kreativität, aller Kultur ist. Es ist weder reine Freiheit noch pure Determination, sondern jener paradoxe Raum, in dem aus der Spannung zwischen Zufall und Regel das Neue entspringt – seien es nun Arten, Kunstwerke oder Gedanken. Im Spiel oQenbart sich das schöpferische Prinzip der Wirklichkeit selbst.
Anhang
Texte zum Spiel