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Die jahrzehntelang dominante Vorstellung, das menschliche Gehirn funktioniere wie ein Computer, gerät zunehmend unter Kritik. Neurosymbolische verteilte KI-Systeme könnten einen Ausweg aus dieser metaphorischen Sackgasse bieten und intelligente Systeme schaffen, die der Komplexität natürlicher Kognition näher kommen als bisherige Ansätze.
Die Grenzen der Informationsverarbeitungs-Metapher
Robert Epstein kritisiert in „The Empty Brain” fundamental die weitverbreitete Gleichsetzung von Gehirn und Computer. Seine zentrale These richtet sich gegen die sogenannte Information Processing Metapher (IP), die davon ausgeht, dass das menschliche Gehirn funktional wie ein Computer arbeitet: Es verarbeite Informationen, speichere Daten und „berechne” Gedanken mithilfe von Algorithmen. Epstein hält diese Sichtweise jedoch für grundlegend unzutreffend und argumentiert, dass Menschen niemals wie Computer gearbeitet haben oder arbeiten werden1Warum die Funktionsweise des Gehirns nicht mit der eines Computers gleichgesetzt werden kann.
Das Problem dieser Metapher liegt nach Epstein darin, dass sie den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs so dominiert hat, dass Forscher kaum in der Lage sind, die Funktionsweise des Gehirns anders zu erklären. Der Vergleich führt zu zirkulären Argumentationen und behindert das Fortschreiten der Erkenntnis. Die metaphorenhafte Gleichsetzung mag verführerisch sein, aber sie ist letztendlich nur eine Geschichte, die wir uns erzählen, um Unbekanntes greifbar zu machen.
Epsteins Kritik wird von immer mehr Wissenschaftlern geteilt. Anthony Chemero betont in seiner „Radical Embodied Cognitive Science”, dass Intelligenz nicht als Verarbeitung von inneren Repräsentationen, sondern als direkte, körperlich eingebettete Interaktion mit der Umwelt verstanden werden sollte2Kognitionswissenschaften – Leiblichkeit und Embodiment3Philosophie der Kognitionswis- senschaft. Auch Antonio Damasio argumentiert in „Descartes’ Irrtum” in eine ähnliche Richtung und kritisiert kognitive Modelle, die zu stark auf abstrakten Funktionsweisen basieren.
Neurosymbolische KI: Ein Paradigmenwechsel
Die Kritik an der IP-Metapher hat direkte Auswirkungen auf die Entwicklung und das Verständnis neurosymbolischer verteilter KI-Systeme. Diese repräsentieren genau einen möglichen Weg jenseits der klassischen Computer-Metapher: Sie vereinen datenbasiertes Lernen (als Stärke neuronaler Netze) mit symbolischer, regelbasierter Verarbeitung von Wissen und Schlussfolgerungen. Das Ziel ist, dass Maschinen nicht nur Muster erkennen, sondern auch abstraktes Wissen logisch verarbeiten und auf neue Situationen übertragen können.
Erweiterung des Intelligenz-Verständnisses
Anstatt Intelligenz ausschließlich als algorithmisch und rechnerisch zu verstehen, integriert die neurosymbolische KI auch symbolisches Wissen, Kontext und logische Schlussfolgerungen. Dies entspricht Epsteins Forderung nach einem Verständnis von Intelligenz, das über reine Informationsverarbeitung hinausgeht.
Verteilte Architekturen als neue Denkmodelle
Wenn KI nicht nur zentral, sondern verteilt arbeitet – beispielsweise über verschiedene Standorte oder Agenten –, wird das Zusammenspiel von symbolischem Wissen und neuronaler Adaptionsfähigkeit noch wichtiger. Verteilte neurosymbolische KI kann Wissen gemeinsam speichern, teilen und flexibel anwenden, ähnlich einer Gesellschaft von Agenten, die kooperativ komplexe Probleme löst. Dieser Ansatz nähert sich dem biologischen und sozialen Modell kognitiver Systeme und tritt aus der engen Computer-Metapher heraus.
Erklärbarkeit und Transparenz
Die symbolischen Komponenten in neurosymbolischer KI bieten Erklärbarkeit, da die Regeln und Wissensstrukturen nachvollziehbar sind. Dies hilft, die „Black Box”-Problematik reiner Deep-Learning-Systeme zu überwinden und kommt Epsteins Kritik an der metaphorischen Überfrachtung entgegen: KI sollte verstehbar und realitätsnah agieren.
Alltagsnähe und Anpassungsfähigkeit
Durch den hybriden Ansatz kann KI nicht nur aus Daten lernen, sondern auch schlüssig argumentieren, logische Schlüsse ziehen und domänenübergreifend Wissen integrieren. Dies zeigt sich in Anwendungen wie Sprachverarbeitung, Bildanalyse oder autonomer Robotik, wo sowohl Mustererkennung als auch logisches Schlussfolgern erforderlich sind.
Fazit: Aufbruch zu neuen Modellen
Die neurosymbolische verteilte KI steht für den Aufbruch, intelligente Systeme jenseits der alten Computer- und IP-Metapher zu gestalten. Sie verbindet Mustererkennung, logisches Denken und verteilte Zusammenarbeit und schafft so ein Modell, das der Komplexität natürlicher Intelligenz näherkommt, wie sie Epstein und andere Kritiker fordern.
Diese Entwicklung ist besonders bedeutsam, weil sie zeigt, dass die Überwindung etablierter Metaphern nicht nur theoretisch wünschenswert, sondern auch praktisch möglich ist. Die neurosymbolische KI bleibt eine dynamische, offene Forschungsrichtung mit großem Potenzial für verständlichere, flexiblere und menschenähnlichere KI-Systeme – und damit ein konkreter Schritt hin zu den alternativen Ansätzen, die Epstein und seine Mitstreiter seit Jahren fordern.
Gerade weil die Computer-Metapher so tief verwurzelt ist, lohnt es sich, über neue Erklärungsmodelle nachzudenken, die biologische, soziale und körperliche Aspekte stärker einbeziehen. Die Herausforderung bleibt, schlüssige und pragmatische Alternativen zu entwickeln – hier steht die Forschung tatsächlich noch am Anfang, aber die neurosymbolische KI weist bereits einen vielversprechenden Weg.