Von Ralf Keuper
Kaum ein Buch der letzten Jahrzehnte hat den Übergang zur Informationsgesellschaft so treffend analysiert und die weitere Entwicklung, in Teilen wenigstens, vorweggenommen, wie Die nachindustrielle Gesellschaft von Daniel Bell. Das ist um so bemerkenswerter, da das Buch im Jahr 1973 aufgelegt wurde, als der Begriff der Informationsgesellschaft noch nicht geläufig war.
Um, wie Bell es selbst ausdrückte, den Begriff der Postindustriellen Gesellschaft fasslicher zu machen, unterteilte er sie in fünf Dimensionen:
- Wirtschaftlicher Sektor: der Übergang von einer güterproduzierenden zu einer Dienstleistungsgesellschaft
- Berufsstruktur: der Vorrang einer Klasse professionalisierter und technisch qualifizierter Berufe
- Axiales Prinzip: die Zentralität theoretischen Wissens als Quelle von Innovationen und Ausgangspunkt der gesellschaftlich-politischen Programmatik
- Zukunftsorientierung: die Steuerung des technischen Fortschritts und die Bewertung der Technologie
- Entscheidungsfindung: die Schaffung einer neuen "intellektuellen" Technologie
Die spätere Entwicklung hat die Einteilung weitgehend bestätigt: Die Dienstleistungsgesellschaft stellt in fast allen entwickelten Ländern den größten Teil des BIP, die Berufsgruppe der Informatiker wie überhaupt der Softwareentwickler hat sich einen festen Platz in der Arbeitswelt erobert, die sog. Quants sind ihnen gefolgt und diesen wiederum die Data Scientists, das theoretische Wissen ist der Treiber technischer und sozialer Innovationen geworden, die Zukunftsorientierung hält mit der technischen Entwicklung jedoch nach wie vor nicht Schritt, bei der Entscheidungsfindung greift man immer häufiger auf analytische Applikationen (Big Data) zurück.
Als zentrale These seines Buches gab Dell aus:
Nach der These, die im vorliegenden Buch aufgestellt wird, ist die Hauptursache für den strukturellen Wandel in der Gesellschaft - den Wandel der Neuerungsmethoden im Verhältnis von Wissenschaft und Technologie und den Wandel der Politik - ein Wandel in der Art des Wissens: durch das Exponentialwachstum und die Auffächerung des Wissens, das Aufkommen einer neuen intellektuellen Technologie, die systematische Forschung durch entsprechende Gelder und, all dies krönend und zusammenfassend, die Kodifizierung des theoretischen Wissens.
Intellektuelle Technologien und ihre Grenzen
Intellektuelle Technologien dienen nach Bell dazu, die Entscheidungsfindung zu unterstützten und die Zukunftsplanung durch Modelle zu ermöglichen. Jedes Modell, jeder Algorithmus hat Grenzen, blinde Flecken. Es fließen Annahmen, Interpretationen in die Modellierung und Programmierung ein, die ein bestimmtes Verhalten begünstigen, was wiederum zu Problemen und zu einer einseitigen Sicht, selektiven Wahrnehmung führen kann. Es besteht die Gefahr, dass die Technokraten die Kontrolle übernehmen bzw. ihren Einfluss weiter ausdehnen. Sie konstruieren irgendwann ihre eigene Realität, die abweichenden Beobachtungen gegenüber immun ist.
Neue Intellektuelle Technologien
Zur Gruppe der intellektuellen Technologien können mit gutem Grund die Generative KI und die agentenbasierte KI zählen. Das gilt vor allem für die Multiagentensysteme, die bereits heute, wie in den Materialwissenschaften. in der Lage sind, Hypothesen zu generieren und auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen(vgl. dazu: Mit KI-Agenten neue Materialien entdecken). Sie übernehmen die Kodifizierung des theoretischen Wissens, wie von Bell angedacht.
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