Der US-amerikanische Psychologe Ulric Neisser legte im Jahr 1967 mit seinem Buch Kognitive Psychologie ein, wenn nicht das Schlüsselbuch der so genannten kognitiven Wende in der Psychologie vor. Nach Neisser ist die kognitive Psychologie das Studium, wie Menschen Wissen lernen, strukturieren, speichern und nutzen. In den Folgejahren nahm er eine immer kritischere Haltung gegenüber den Forschungsmethoden der 'kognitiven Psychologie' ein, die er als teilweise 'ökologisch nicht schlüssig' bewertete. Von Neisser stammen die Begriffe Ikonisches Gedächtnis und Echoisches Gedächtnis.
Ebenso kritisch wie die Entwicklung in der kognitiven Psychologie betrachtete Neisser die frühen Forschungen zur künstlichen Intelligenz (KI). Neisser kritisierte, dass viele KI-Experimente und -Modelle zu stark vereinfacht und von der realen Welt losgelöst waren. Er argumentierte, dass die kognitiven Prozesse, die in kontrollierten Laborumgebungen oder einfachen Computersimulationen untersucht wurden, oft wenig mit dem tatsächlichen menschlichen Denken und Verhalten im Alltag zu tun hatten.
Weiterhin warnte Neisser davor, das "Computermodell des Geistes" zu stark zu betonen. Obwohl er den Computer als nützliche Metapher für kognitive Prozesse ansah, hielt er es für problematisch, menschliches Denken ausschließlich als Informationsverarbeitung und Symbolmanipulation zu verstehen.
Ein weiterer Kritikpunkt war, dass frühe KI-Ansätze den Kontext und die Umgebung, in der Kognition stattfindet, zu wenig berücksichtigten. Neisser betonte die Bedeutung der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt für kognitive Prozesse.
Fokus auf isolierte Funktionen
Neisser kritisierte, dass sich die KI-Forschung oft auf einzelne, isolierte kognitive Funktionen konzentrierte, anstatt die Komplexität und Ganzheitlichkeit menschlicher Kognition zu berücksichtigen.
Insgesamt plädierte Neisser für eine stärker ökologisch orientierte und ganzheitliche Herangehensweise in der Kognitionsforschung und KI-Entwicklung, die die Komplexität menschlichen Denkens und Verhaltens in realen Kontexten besser abbilden sollte.
Im Jahr 1983 antwortete Neisser in einem Interview mit Psychologie Heute auf die Frage, wo denn die Grenzen der Denkfähigkeit des Computers lägen:
Es läuft im Grunde darauf hinaus, dass Computer gar nichts wissen. Was ein Computer kann, ist Informationen speichern. Von Wissen kann man dabei genauso wenig sprechen wie bei einem Wörterbuch. Die Informationen sind drin, und man kann sie herausholen, doch der Computer kann ihre Bedeutung nicht abschätzen.
Sicher, einige Programme sind heute so entwickelt, dass sie bestimmte Informationen über die reale Umwelt enthalten. .. Das heisst für mich jedoch nicht, dass die Computer im eigentlichen Sinn etwas wissen. Bei jeder Antwort treffen sie nur eine Wahl innerhalb eines begrenzten Spektrums von Möglichkeiten. ...
Es ist unmöglich, alles Wissen über eine reale Alltagssituation in eine System von Aussagen zu packen, alle relevanten Informationen niederzuschreiben. Die Welt ist zu komplex, man kann sie nicht vollständig beschreiben, man muss sie wahrnehmen. ...
Vor zwanzig Jahren habe ich drei Aspekte genannt, in denen sich Computerprogramme und menschliches Denken unterscheiden. Menschen machen Erfahrungen und lernen daraus; menschliches Denken ist eng mit Gefühlen verbunden; und menschlichem Handeln und Denken liegen komplexe Motive zugrunde. Ein Computerprogramm macht in Gegensatz dazu keine Erfahrungen, hat keine Gefühle und ist geradezu monomanisch in seiner Einspurigkeit. Heute würde ich außer diesen drei Unterscheidungen noch einen vierten Aspekt nennen: Der Computer kann die Welt nicht wahrnehmen. ...
Die menschliche Natur ist kompliziert und reizvoll, und wir können noch viel mehr über sie erfahren als wir bisher wissen. In bin allergisch gegen Leute, die meinen sie wüßten schon alles und brauchten dieses Wissen nur noch in simple Lehrsätze zu fassen. Ich bin ziemlich sicher: Genau das ist immer und überall falsch. Menschen sind keine Maschinen. Geistiges Leben kann nicht mit der Lösung von Tests verglichen werden. Wir fangen doch gerade erst an zu ahnen, welche Fülle und Vielfalt das Leben in unserer komplexen Welt haben kann.
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